KARLSRUHE - Am Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe steht der Solidaritätszuschlag auf dem Prüfstand.
12.11.2024 - 18:52:17Kostet die Einheit heute noch Geld? Karlsruhe prüft Soli
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KARLSRUHE (dpa-AFX) - Am Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe steht der Solidaritätszuschlag auf dem Prüfstand. Der Zweite Senat wolle sich mit einer Reihe verfassungsrechtlicher Fragen zu der Ergänzungsabgabe befassen, sagte die Vorsitzende Richterin, Doris König, zu Beginn der mündlichen Verhandlung. Unter anderem gehe es darum, inwiefern die Deutsche Einheit weiterhin zusätzliche Finanzierung benötigt. Seit 2021 gilt der Soli für 90 Prozent der Steuerzahler schon nicht mehr, aktuell geht es um die verbliebenen Betroffenen wie Gutverdiener und Unternehmen.
Konkret verhandelt das höchste deutsche Gericht über eine Verfassungsbeschwerde von sechs FDP-Politikerinnen und -Politikern. Sie meinen, die Erhebung des ursprünglich mit der Finanzierung der Wiedervereinigung begründeten Solidaritätszuschlags sei mit Auslaufen des Solidarpakts II Ende 2019 verfassungswidrig geworden. "Eine stillschweigende Umwidmung der Ergänzungsabgabe ist unzulässig", sagte ihr Bevollmächtigter Henning Berger. Es sei eine "Normallage" eingetreten, die einer Fortführung entgegenstehe. Zudem kritisieren die Kläger, Bezieher unterschiedlicher Einkommen würden ungleich behandelt.
Richterin Rhona Fetzer, die Berichterstatterin in dem Fall ist, sagte, die Beschwerdeführer verfolgten ihr politisch gescheitertes Ziel nun juristisch weiter. Die Verfassungsbeschwerde sei unter fünf anhängigen Verfahren als Pilotverfahren ausgewählt worden. Ein Urteil spricht das Gericht in der Regel erst einige Monate später. (Az. 2 BvR 1505/20)
Regierung sieht weiterhin Finanzbedarf
Der Bund verteidigt den Soli und argumentiert, durch die Folgen der Wiedervereinigung ergebe sich noch heute ein erhöhter Finanzbedarf. Als Bevollmächtigter der Bundesregierung sagte Kyrill-Alexander Schwarz: "Politische Prozesse sind nicht zwingend vorhersehbar." Das Gericht habe auch immer die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers bei Finanzierungsfragen betont. Schwarz verwies zudem darauf, dass der Bundesfinanzhof in einem Urteil 2023 nicht von der Verfassungswidrigkeit des zugrundeliegenden Gesetzes überzeugt gewesen sei.
Gleichzeitig stellten die Bundestagsabgeordneten Michael Schrodi (SPD) und Andreas Audretsch (Grüne) infrage, ob eine Ergänzungsabgabe wie der Soli zwangsläufig nur der Deckung einer bestimmten, ursprünglich definierten Finanzlast dienen dürfe. Die Aufgaben des Staates seien in den letzten Jahren nicht weniger geworden, betonte Audretsch - und verwies auf Mehrkosten etwa durch den Infrastruktur-Ausbau, den russischen Angriffskrieg in der Ukraine und die Bewältigung der Klimakrise. Es gebe keinen Normalzustand.
Aus seiner Sicht ist es auch vom Sozialstaatsgebot gedeckt, dass nur Gutverdiener belastet werden. Zumal die Unterschiede zwischen Arm und Reich größer würden.
Mit den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Steuerart "Ergänzungsabgabe" hatte das Bundesverfassungsgericht sich schon 1972 einmal beschäftigt. Der Senat habe damals entschieden, eine Ergänzungsabgabe müsse von der Verfassung her nicht von vornherein befristet sein, sagte König. Der Gesetzgeber dürfe zudem sozialen Erwägungen Rechnung tragen. Ob eine Ergänzungsabgabe abgeschafft werden müsse, wenn die Voraussetzungen für die Erhebung entfielen, habe das Gericht damals ausdrücklich offen gelassen, so König.
Gutachten sieht vereinigungsbedingte Belastungen
Inwiefern eine Ergänzungsabgabe wie der Soli rechtlich zwingend einen bestimmten Aufgabenbezug braucht, wurde in der Verhandlung intensiv diskutiert. Das Gericht hatte verschiedene Sachverständige von Universitäten und Forschungsinstituten geladen, die teils entgegengesetzte Positionen einnahmen.
Ein vom Bundesfinanzministerium in Auftrag gegebenes Gutachten des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) aus dem Frühjahr 2020 spiele bei der Frage nach dem zusätzlichen Finanzbedarf des Bundes eine wichtige Rolle, sagte König zu Beginn der Verhandlung. In dem Gutachten wurden vereinigungsbedingte überproportionale Belastungen des Bundeshaushalts bis zum Jahr 2030 geschätzt.
Der Bevollmächtigte der Kläger, Berger, kritisierte, der vereinigungsbedingte Finanzbedarf werde im Gutachten benannt, jedoch nicht belegt. Der Präsident des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung Halle, Reint Gropp, der als Sachverständiger geladen war, um das DIW-Gutachten zu bewerten, erklärte, ein Großteil der darin genannten Herausforderungen im Osten seien auf eine Abwanderung von Ost nach West zurückzuführen. Aus einer solchen könne man aber nur eine notwendige Umverteilung ableiten - nicht aber einen zusätzlichen Finanzbedarf.
Soli für 90 Prozent der Steuerpflichtigen abgeschafft
Der Soli wird als Zuschlag auf die Einkommens- und Körperschaftsteuer sowie Kapitalerträge erhoben und beträgt 5,5 Prozent der jeweiligen Steuer. Seit 2021 müssen nur noch Besserverdienende, Unternehmen und Kapitalanleger den Soli zahlen. Für 90 Prozent der Steuerpflichtigen wurde er im Rahmen des "Gesetzes zur Rückführung des Solidaritätszuschlag 1995" abgeschafft, für weitere 6,5 Prozent zumindest zum Teil. Dem Institut der deutschen Wirtschaft zufolge zahlten zuletzt noch rund sechs Millionen Menschen den Soli sowie etwa 600.000 Kapitalgesellschaften.
Sollte der Karlsruher Senat der Ansicht der FDP-Beschwerdeführer folgen und den Zuschlag für verfassungswidrig erklären, würde das wohl die nächste Bundesregierung vor eine weitere große Herausforderung stellen. Denn für das kommende Jahr sind Soli-Einnahmen von 12,75 Milliarden Euro fest im Haushalt verplant - die wohl wegfallen würden. Doch es könnte noch schlimmer kommen: Der Senat könnte entscheiden, dass der Staat Einnahmen aus dem Solidaritätszuschlag der vergangenen Jahre zurückzahlen muss. Das wären dann seit 2020 um die 65 Milliarden Euro.
Wenn die Verfassungswidrigkeit des Solidaritätszuschlags festgestellt würde und dieser rückabgewickelt werden müsste, müsste der zusätzliche Finanzbedarf eben anders gedeckt werden, erklärte der FDP-Bevollmächtigte Berger. Das obliege dann dem Gesetzgeber. Je länger man warte, desto größer seien die Folgen im Falle einer festgestellten Verfassungswidrigkeit, betonte Berger.