In Deutschland verschreiben Ärztinnen und Ärzte einer Studie zufolge jährlich viele medizinische Leistungen mit zweifelhaftem Nutzen.
13.03.2025 - 06:28:52Fragwürdige medizinische Leistungen kosten Millionen
Dadurch entstehen Kosten in Millionenhöhe, wie eine Studie von Wissenschaftlern der Technischen Universität Berlin sowie des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung (ZI) zeigt.
Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben mit Hilfe von Abrechnungsdaten der Techniker Krankenkasse (TK) 24 verschiedene medizinische Leistungen betrachtet, deren Nutzen von Fachgesellschaften als unangemessen eingestuft wurden. Es wurden im Schnitt für die Jahre 2019 bis 2021 jährlich 10,6 Millionen Fälle untersucht, bei denen die unangemessenen Leistungen potenziell auftreten können. Die Auswertung ergab, dass von diesen untersuchten Fällen jährlich je nach Strenge der Definition 4 bis 10,4 Prozent tatsächlich als Leistung mit geringem medizinischem Wert eingestuft werden können. Von 2019 bis 2021 hätten insgesamt 1,6 Millionen Patientinnen und Patienten mindestens eine dieser Leistungen erhalten.
Kosten in Millionenhöhe
Dazu gehört etwa die Verschreibung von Antibiotika bei unkomplizierten Atemwegsinfektionen. Ein weiteres Beispiel ist die Untersuchung von Rückenschmerzen per Röntgen, Computertomographie (CT) oder Magnetresonanztomographie (MRT). Auch die Messung der Schilddrüsenhormone fT3/fT4 bei Menschen mit bekannter Schilddrüsenunterfunktion zählen Experten dazu.
Die Kosten, die dadurch im ambulanten Bereich der TK entstehen, schätzen die Wissenschaftler auf zwischen rund 10 bis 15 Millionen Euro jährlich. Zur Einordnung: Im Jahr 2023 hat die TK laut ZI gut 7 Milliarden Euro für ärztliche Behandlungen ausgegeben.
Finanzielle Reize könnten einer der Gründe sein
Von Überversorgung spricht man, wenn eine medizinische Leistung erbracht wird, die die Qualität oder Dauer des Lebens wahrscheinlich nicht erhöht, die mehr Schaden als Nutzen bringt oder die Patienten, wären sie über den potenziellen Nutzen und Schaden vollständig informiert gewesen, nicht gewollt hätten.
Warum erbringen Ärztinnen und Ärzte diese Leistungen trotzdem, zumal dadurch unnötige Kosten entstehen? "Es gibt verschiedene Einflussfaktoren", sagte Studienleiterin Verena Vogt, die inzwischen am Universitätsklinikum in Jena arbeitet. Zum einen könne es an Rahmenbedingungen liegen, etwa weil es finanzielle Reize für bestimmte Leistungen gibt.
Auch Patientenwille spielt eine Rolle
Zum anderen könnte Zeitdruck eine Rolle spielen. "Wenn ein Patient Rückenschmerzen hat, braucht es wahrscheinlich mehr Zeit, ihm zu erklären, dass er sich mehr bewegen soll, als eine Überweisung für eine Bildgebung auszustellen." Untersuchungen zeigen, dass Arzt und Patient in der hausärztlichen Versorgung in Deutschland im Schnitt acht Minuten miteinander verbringen, wie Vogt sagte.
Ein weiterer Grund könne sein, dass medizinisches Wissen sich ändere. Wenn eine neue Leitlinie veröffentlicht werde, zum Beispiel zu Schilddrüsenerkrankungen, kämen die neuen Empfehlungen nicht unbedingt sofort in der Praxis an. Und es gibt noch eine mögliche Erklärung: Glaubenssätze wie "Viel hilft viel' könnten dazu beitragen, dass Patientinnen und Patienten bestimmte Leistungen einforderten
Daten nicht ausreichen für eindeutige Schlussfolgerungen
Diese Einschätzung teilt auch ZI-Vorstand Dominik von Stillfried: "Der wesentliche Treiber dürften Situationen sein, in denen Patienten sich etwas wünschen." Dafür bestehe in Deutschland mehr Spielraum als in anderen vergleichbaren Ländern.
Außerdem bedeutet es seiner Ansicht nach nicht, dass eine Leistung per se überflüssig ist, nur weil ihr Nutzen zweifelhaft ist. Zum Teil sei es eine Ermessensentscheidung und es gebe Grenzfälle, in denen die Anwendung berechtigt sei. Ein medizinischer Grund dafür, bei einer unkomplizierten Atemwegserkrankung ein Antibiotikum zu verschreiben, könne zum Beispiel sein, dass der Patient älter sei und sich in einem schlechten Allgemeinzustand befindet, sagte von Stillfried.
Deutschland hat eins der teuersten Gesundheitssysteme
Um das zu bewerten, reichten die Abrechnungsdaten aber in der Regel nicht aus. Um eine medizinische Begründung ausschließen zu können, bräuchte es Einsicht in die elektronischen Patientenakten. Die Studienautoren wissen nicht für welche Diagnose die untersuchten Leistungen erbracht wurden.
Mehr Untersuchungen führten nicht automatisch zu einer besseren Gesundheit, sagte Vogt. "Gemessen an unserem Bruttoinlandsprodukt geben wir in Deutschland weltweit mit am meisten für unsere Gesundheit aus. Aber unsere Lebenserwartung ist nicht so hoch, wie wir erwarten würden."