Feiern, Schutt

Zwei Erdbeben haben 2023 Antakya in der Türkei verwüstet.

05.02.2025 - 08:15:37

Feiern im Schutt - Das Leben nach dem Erdbeben in der Türkei. Noch immer wird die Stadt von Baustellen beherrscht, die Überlebenden ringen um Normalität. Und die nächste Krise droht bereits.

Über der Stadt Antakya liegt ein Schleier von Staub. Von der gigantischen Baustelle im Zentrum zieht er sich bis in die kleinste Ritze der Stadt. Zwei Jahre nach den verheerenden Erdbeben mit Zehntausenden Toten in der Türkei läuft man in der Altstadt Antakyas immer noch durch Trümmer - die Stadt von damals scheint verschwunden. Aber hier und da erwacht sie nachts wieder zum Leben.

Grund dafür sind Leute wie Dogus Genc. Der 29-Jährige will seiner Heimatstadt wieder Leben einzuhauchen und betreibt zwischen Gassen aus Ruinen eine kleine Tanzbar. Seine Gäste tauchen hier in eine andere Welt ein.

Der Gastronom hatte vor der Wiedereröffnung große Sorge, obwohl das Beben da schon ein Jahr zurücklag. 53.000 Menschen wurden allein in der Türkei durch die Beben am 6. Februar 2023 getötet, in der Provinz Hatay, in der Antakya liegt, starben 24.000 Menschen. «Wir fürchteten, die Leute würden sagen, es sind so viele Menschen gestorben, wie könnt ihr da feiern.» Elf Provinzen waren betroffen, aber keine so sehr wie Hatay.

Die Reaktionen auf die Wiedereröffnung der Rosinante waren euphorisch. Jeden Samstag ist der Laden zur 90er-Party prall gefüllt, die Musik dröhnt bis in die umliegenden Ruinen. Aber noch immer fällt regelmäßig auch der Strom aus. «Dann singen die Gäste», sagt Genc.

Einige Hundert Meter weiter hat auch Cahit Güzelyurt sein Meyhane - ein traditionelles türkisches Gasthaus mit Livemusik - wieder eröffnet. Er versuche auf die Füße zu kommen, berichtet er. Eine Wand des historischen Gebäudes wurde durch das Beben zerstört. Durch diese klauten Diebe alles, «inklusive der Stromkabel», sagt Güzelyurt. 

Nun sei das Lokal Serenat zwar wieder hergerichtet, aber so wie damals werde es wohl nie mehr, sagt der Inhaber. «Eine ganze Stadt ist verschwunden. Unsere Gäste sind weg. Viele sind gestorben, andere haben die Stadt verlassen.» 

Und nicht allen, die geblieben sind, ist nach Feiern zumute. Viele hätten alles verloren, zum Ausgehen bleibe da nichts übrig. Jetzt kommen andere ins Serenat, die zahlreichen Arbeiter zum Beispiel, die aus dem ganzen Land in die Stadt gekommen sind, um auf den Baustellen zu arbeiten. 

Zwei Jahre nach den Beben gibt es in Antakya kaum lebenswerte Orte. Das Zentrum ist von einer gigantischen Baustelle beherrscht, aus der massenhaft Kräne, Betonmischanlagen und Rohbauten in die Höhe ragen. Laut des Gouverneursamts entstehen hier rund 64.000 neue Wohnungen.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdo?an bezeichnet die Arbeiten in den von den Erdbeben betroffenen elf Provinzen stolz als die «größte Baustelle der Erde». Auf ihr waren im Oktober 2024 dem Präsidenten zufolge 160.000 Menschen beschäftigt.

Für die Bewohner sei das eine handfeste Bedrohung, erzählt Mehmet Zencir, Generalsekretär der Türkischen Ärztekammer TTB. Die Staubbelastung in Antakya und an anderen Orten sei extrem hoch - und könne zur Ursache für Krebs werden. Zencir erwartet auch einen Anstieg der Herz- und Gefäßerkrankungen. Kurzfristig sehe man bereits deutlich mehr Atemwegsinfektionen. Menschen, die ohnehin schon krank seien, würden durch die hohe Belastung in der Luft außerdem weiter geschwächt. Der Regierung wirft Zencir unnötige Eile beim Wiederaufbau vor. Betonmischanlagen würden direkt ins Zentrum gebaut, um schnell voranzukommen. Das gesundheitliche Schicksal der dort lebenden und arbeitenden Menschen werde hintangestellt.

Die Erdbebenkatastrophe hat sich aber auch in die Psyche vieler tief eingegraben. Über Tage riefen Menschen unter den Trümmern nach Hilfe. Leute buddelten mit allem, was sie fanden - Gabeln, Löffeln, Stöcken. Aber bis die notwendigen Maschinen da waren, war es für viele der Verschütteten zu spät. Die Hilferufe, die aus den Trümmern drangen, wurden von einem starken Verwesungsgeruch abgelöst.

Selbstmordgedanken und -versuche seien in der Region deutlich häufiger, berichtet die Psychologin Elif Özbakan, die in einem Traumazentrum in Antakya arbeitet. Auch der Drogenmissbrauch in der Region habe deutlich zugenommen. Die Droge Methamphetamin etwa koste nur 20 türkische Lira - etwa 27 Cent. Ein verbreitetes Problem seien auch Beziehungsprobleme. Paare lebten in Container auf kleinsten Raum, häufig zusammen mit den Kindern. Für niemanden bleibe ein Rückzugsort. 

Eine Prognose, wann Antakya wieder steht, will kaum einer wagen. Auch der Inhaber des Serenat, Güzelyurt, wirkt resigniert. Die Gesundheitsgefahren nimmt er in Kauf. Seine Stadt zu verlassen, werde nie eine Option sein - obwohl es sie eigentlich nicht mehr gibt.

@ dpa.de