Spanien, Tiere

Segler zittern, Forscher stehen vor einem Rätsel: Vor den Küsten Spaniens und Portugals werden Boote von Orcas zerstört.

05.06.2023 - 12:17:20

Mysteriöse Orca-Attacken versetzen Segler in Angst. Was steckt dahinter? Eine Wal-Dame steht im Verdacht, die «Anstifterin» zu sein.

Die Angst ist in der Stimme und den Augen von Opfern noch Monate nach dem Horrortrip zu erkennen. «Es hat sehr lange gedauert. Vielleicht eine halbe Stunde. Uns kam es aber wie eine Ewigkeit vor», erzählte Andrea Fantini jüngst im spanischen Fernsehsender RTVE. Sechs oder sieben Orcas, auch Schwert- oder Killerwale genannt, hätten in der Straße von Gibraltar seine Rennjacht attackiert und dabei unter anderem das Ruderblatt «aufgefressen», berichtete der Bootskapitän noch sichtlich beeindruckt.

Fantini sah ein «sehr aggressives Verhalten» der Tiere, die der breiten Öffentlichkeit spätestens seit der Filmreihe «Free Willy» bekannt sind. Dabei waren gewalttätige Begegnungen mit den bis zu zehn Meter langen und oft über fünf Tonnen schweren Orcas (Orcinus orca) bis vor kurzem noch weitgehend unbekannt. Zwar greifen Orcas auch andere Meeresgiganten an: Neben Thunfischen, Heringen, Pinguinen, Robben und Seevögeln verspeisen sie auch Delfine, andere Wale und Haie. Auf Boote hatten sie es aber bisher nicht abgesehen.

Erste Zwischenfälle meldeten Schiffsbesatzungen im Frühjahr 2020. Die unangenehmen Begegnungen wurden von Crews oft auf Video festgehalten. Man hört dann Schreie der überraschten Seeleute: «Boah, was für ein Riesenvieh!», «Du Drecksack!» und «Er hat uns erwischt!». Fantinis Boot war im Juni 2022 dran.

Immer mehr Orca-Attacken

Dieses Jahr häufen sich Medienberichte über Orca-Attacken. Seit Januar habe man mindestens 53 registriert, sagt der Biologe Alfredo López von der Organisation «GT Atlantic Orca» im Interview der Deutschen Presse-Agentur. Zwölf Boote seien so sehr beschädigt worden, dass sie abgeschleppt werden mussten. Noch sei es aber zu früh, um definitiv über eine Zunahme im Vergleich zu den Vorjahren sprechen zu können.

Fest steht aber: Immer wieder musste der Seenotdienst im April und im Mai betroffene Besatzungen an der Straße von Gibraltar bergen. Zwischenfälle gab es auch vor der Küste Portugals und weiter nördlich im Atlantik vor der spanischen Region Galicien. Anfang Mai ging vor Cádiz das Schweizer Boot «Champagne» nach einem Zwischenfall mit Orcas sogar unter. Es sei «nicht wirklich lustig» gewesen, sagte Skipper Werner Schaufelberger (72) dem Portal «Blick».

Man müsse schnell eine Lösung finden, fordert derweil Fantini. Sonst könnten kleinere Schiffe das Gebiet zwischen Mittelmeer und Atlantik, zwischen Europa und Afrika wohl nicht mehr befahren. Das Phänomen weckt Erinnerungen an Frank Schätzings Bestseller «Der Schwarm». Im 2004 erschienenen Science-Fiction-Thriller gerät die Welt wegen einer Rebellion der Natur - ja, wegen einer Reihe gefährlicher Angriffe aus dem Meer - an den Rand der Apokalypse.

Steckt Gladis Blanca dahinter?

Doch warum agieren viele Orcas plötzlich so? Forscher wissen es nicht. Sie rätseln und widersprechen sich zum Teil. López, ein weltweit angesehener Meeresbiologe, vertritt zwei Thesen. Die erste: Die Schwertwale aus der Familie der Delfine könnten vielleicht einfach «etwas Neues» erfunden haben. Sie seien hochintelligente, neugierige und sehr soziale Wesen, die von ihren Artgenossen lernten. Bereits früher habe man beobachtet, dass einzelne Orca-Gruppen eigenwillige Gewohnheiten entwickelt hätten.

«Aber es könnte sich auch um eine Antwort auf ein negatives Erlebnis handeln», meint López. «Das heißt, ein oder mehrere Tiere haben vielleicht eine schlechte Erfahrung gemacht und versuchen, die Boote zu stoppen, damit sich das nicht wiederholt.» Der Experte hat eine Orca-Mama im Verdacht, die Attacken, die Biologen lieber «Interaktionen» nennen, initiiert zu haben. Die Wal-Dame hat auch einen Namen: Gladis Blanca, Weiße Gladis.

Sie oder eines ihrer Jungen könnten sich etwa in einem Fischnetz verfangen haben oder von einem Boot angefahren worden sein. Für eine Reaktion auf eine negative Erfahrung spreche unter anderem, dass Gladis Blanca 2021 sogar mit ihrer neugeborenen Tochter Boote angefallen habe. «Die Motivation, die sie zur Interaktion antreibt, ist offenbar größer als der mütterliche Schutzinstinkt», sagt López.

Oder doch alles nur ein Spaß?

Im Gegensatz dazu glaubt Renaud de Stephanis, dass die Orcas nur Spaß haben wollen. «Es ist klar, dass es sich um Spiele handelt», sagte der Präsident der Umweltschutzorganisation Circe zu RTVE. Jüngere Tiere hätten mit diesem Verhalten begonnen, und nun seien auch zwei Mütter aktiv, versichert er. Es sei zu erwarten, dass die Zwischenfälle aufhörten, sobald die Orcas dieses Spiel satt hätten.

Einige Meeresbiologen räumen unumwunden ein, man habe «keinen blassen Schimmer». Einig sind sich Fachleute jedoch darin, dass man die Orcas «nicht kriminalisieren» dürfe. «Es gibt Schlagzeilen in der Presse, die die Realität verwischen», klagt López. Er meint Überschriften wie «Aufstand der Orcas» oder «Rache der Mörderwale». «All dies muss uns vielmehr dazu bringen, darüber nachzudenken, dass Aktivitäten des Menschen der Grund für dieses Verhalten sein könnten», gibt López zu bedenken.

Auffällig ist: Während Orcas in Ozeanen weltweit leben, erfolgten die dokumentierten Angriffe in dem relativ kleinen Gebiet südlich und westlich der Iberischen Halbinsel. Beteiligt waren Schätzungen zufolge bislang insgesamt 35 bis maximal 60 Tiere.

Dass die Lage für alle Beteiligten ernst ist, zeigt die jüngste Reaktion des Ministeriums für Ökologischen Wandel in Madrid. Nachdem Fahrverbote für kleinere Boote mit einer Schiffslänge von bis zu 15 Metern in bestimmten Meereszonen wenig gebracht hatten, begann man vorige Woche damit, einzelne Orcas mit GPS-Trackern zu bestücken, um sie orten und Kapitäne warnen zu können.

López verweist auch auf die Informationen auf der Homepage seiner Organisation. Kapitäne müssten sich besser informieren und alternative Schifffahrtswege wählen, nicht nachts fahren und sich nicht allzu weit von den Küsten entfernen. «Es ist wichtig, diese Informationen auch in den deutschen Häfen zu verbreiten, denn viele Seeleute kommen aus Deutschland und Nordeuropa», betont er.

@ dpa.de