Der Angriff in einer Schule in St.
16.07.2024 - 04:00:42Schüler soll Ex-Freundin getötet haben - Prozess beginnt. Leon-Rot bei Heidelberg löste im Januar Entsetzen aus. Auch ein Kontaktverbot half dem Opfer nicht. Jetzt beginnt der Prozess - unter besonderen Voraussetzungen.
Er soll seine 18-jährige Ex-Freundin in einem Aufenthaltsraum der gemeinsamen Schule erstochen haben: Rund ein halbes Jahr nach dem Tod der Abiturientin muss sich der 18 Jahre alte mutmaßliche Täter vor dem Heidelberger Landgericht verantworten. Ihm werden unter anderem Mord und gefährliche Körperverletzung vorgeworfen.
Sitzung nach weniger als einer Stunde vertagt
Der Prozess, der unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfindet, habe am Vormittag begonnen, bestätigte eine Sprecherin des Gerichts. Allerdings sei die Sitzung nach weniger als einer Stunde - direkt nach der Anklageverlesung - vertagt worden, weil der psychiatrische Sachverständige erkrankt sei.
Laut Anklage soll der mutmaßliche Täter am 25. Januar mit einem Fleischmesser mehrfach auf die junge Frau eingestochen haben - unter anderem in den Nacken und die Herzgegend. Die 18-Jährige starb noch am Tatort auf einem Schulgelände in St. Leon-Rot bei Heidelberg. Der Angeklagte war dann mit einem Auto geflohen - nach einem Unfall in Niedersachsen klickten die Handschellen.
Die Tat ist ein extremer Fall von Gewalt an Schulen - aber kein Einzelfall. Schläge, Tritte, sexuelle Übergriffe: Aus Schulen in Deutschland werden mehr Fälle von Gewalt bekannt. In Baden-Württemberg etwa wurden im vergangenen Jahr 2545 Straftaten gegenüber Schülern und Lehrern erfasst - eine Zunahme um 13,5 Prozent. Die Zahl der Gewaltdelikte an bayerischen Schulen stieg 2023 um 24,5 Prozent auf 690. In Berlin ging nach einem Höchststand bei Straftaten an Schulen 2022 die Zahl der registrierten Delikte noch einmal um knapp zwölf Prozent in die Höhe.
Autounfall mit 100 Kilometern pro Stunde auf der Flucht
Der mutmaßliche Täter im Fall St. Leon-Rot war nach dem Tod der Schülerin mit einem Auto bis nach Niedersachsen gekommen. Dort stieß er dann in Seesen - verfolgt von der Polizei - mit mindestens 100 Kilometern pro Stunde mit einem unbeteiligten Fahrzeug zusammen. Sowohl der 18-Jährige als auch der Fahrer des anderen Fahrzeugs wurden verletzt. Der junge Mann soll zudem zwei Polizisten angegriffen haben. Wegen des Unfalls wirft die Staatsanwaltschaft ihm gefährliche Körperverletzung vor.
Der Prozess wird komplett unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden. Grund dafür sei, dass Teil der Anklage auch eine Körperverletzung aus dem November 2023 ist. Damals soll der mutmaßliche Täter die später getötete Schülerin bereits mit Faustschlägen verletzt haben. Zum Zeitpunkt dieser Tat war er noch 17 Jahre alt und damit minderjährig.
Bei der Tat im November soll er die junge Frau geschlagen haben, weil sie sich von ihm trennen wollte, so die Anklage. Er soll erst von ihr abgelassen haben, als ihre Mutter das Zimmer betrat. Die Schülerin erlitt demnach unter anderem eine Nasenbeinfraktur sowie Prellungen des Jochbeins und der Halswirbelsäule.
Kein gerichtlich angeordnetes Kontaktverbot
Das Opfer zeigte den Angreifer laut Anklage nach den Faustschlägen an, forderte aber kein gerichtlich angeordnetes Kontakt- oder Annäherungsverbot. Die Polizei kontaktierte den Schüler den Angaben zufolge mehrfach im Zuge von Gefährderansprachen. Die Schulleitung setzte ein Kontaktverbot mit verschiedenen Maßnahmen innerhalb der Schule durch. Sowohl das Opfer als auch der mutmaßliche Täter waren Abiturienten.
Sollte der mutmaßliche Täter nach Jugendstrafrecht verurteilt werden, drohen ihm nach Angaben des Gerichts bis zu 15 Jahre Haft; bei einer Verurteilung nach Erwachsenenstrafrecht lebenslänglich. Für den Prozess sind insgesamt neun Verhandlungstage angesetzt. Kommende Woche Dienstag soll das Verfahren weitergehen. Das Urteil wird für den 15. August erwartet.
Mandelbaum zum Gedenken
Ein Sprecher der Schule sagte kurz vor Prozessbeginn: «Die Schulgemeinde ist erleichtert, dass der Abi-Jahrgang die schriftlichen und mündlichen Abi-Prüfungen trotz der Umstände richtig gut hinbekommen hat. Und gleichzeitig ist die Schulgemeinde erleichtert, dass die Hauptverhandlung nunmehr sehr zügig nach der Tat stattfinden wird.» Zum Gedenken an das Opfer hat die Schule vergangene Woche einen Mandelbaum auf dem Schulgelände gepflanzt.
Bereits kurz vor der Tat an dem Gymnasium in St. Leon-Rot hatte ein ebenfalls tödlicher Angriff in einer Schule im badischen Offenburg für Entsetzen gesorgt: Ein 15-Jähriger soll am 9. November vergangenen Jahres mit einer Pistole in seiner Schule auf einen Mitschüler geschossen haben. Das Opfer starb im Krankenhaus. Gegen den Jugendlichen läuft derzeit ein Prozess wegen Mordes und versuchten Mordes. Das Verfahren steht nach Auskunft des Landgerichts Offenburg kurz vor dem Abschluss. Voraussichtlich am Nachmittag des 23. Juli soll das Urteil nicht öffentlich verkündet werden. Die Staatsanwaltschaft hat auch die Eltern des mutmaßlichen Schützen angeklagt, wie sie am Montag mitteilte: Sie wirft ihnen fahrlässige Tötung und Verstöße gegen das Waffengesetz vor.
Gewalt unter Kindern und Jugendlichen nach Corona-Pandemie gestiegen
Gewalt unter Kindern und Jugendlichen hat nach Einschätzung von Expertin Sibylle Winter auch infolge der Corona-Pandemie zugenommen. Das zeige sich sehr selten in schwerster Gewalt wie den beiden Tötungsdelikten in Baden-Württemberg, sagte die stellvertretende Klinikdirektorin der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters an der Berliner Charité nach der Tat in St. Leon-Rot. «Aber es gibt mehr emotionale Gewalt. Es wird mehr geschrien, mehr beleidigt.» Mobbing beispielsweise nehme zu.
Als Grund nannte Winter unter anderem die Lockdowns mit geschlossenen Schulen und dem sogenannten Homeschooling. Vor allem in der Schule, im Miteinander erwerbe man aber soziale Kompetenzen. Gerade 15-Jährige wie der mutmaßliche Täter in Offenburg und 18-Jährige wie der Verdächtige in St. Leon-Rot seien in einer Altersspanne, in der man wichtige Schritte mache - vom pubertierenden, bisweilen rebellierenden Teenager zum Erwachsenen. Auch das Umfeld wie Eltern und Schule als mögliche Ansprechpartner spielten hier eine Rolle.