Otto Brenner Stiftung prämiert zum 20. Mal herausragenden Journalismus
08.10.2024 - 11:00:19Otto Brenner Stiftung prämiert zum 20. Mal herausragenden Journalismus. Frankfurt - +++ Neben den begehrten Otto Brenner Preisen werden ein Newcomerpreis, ein Medienprojektpreis und drei Recherche-Stipendien vergeben +++ "Die besondere Auszeichnung" geht im Jubiläumsjahr des Otto Brenner Preises an Günter Wallraff. Die Jury zeichnet damit das Lebenswerk des Investigativ-Journalisten aus +++ Die Preisverleihung findet am 12. November in Berlin statt +++ Georg Mascolo, langjähriger Spiegel-Chefredakteur, spricht in seiner Festrede über den kritischen Journalismus in Deutschland +++ Die OBS verbindet die Preisverleihung nach den Septemberwahlen mit einer Tagung zur aktuellen Lage Ostdeutschlands +++ Arne Semsrott ("FragDenStaat") eröffnet mit Überlegungen aus seinem Bestseller "Machtübernahme" +++ Jahrestagung und Preisverleihung werden am 12. November ab 13:30 Uhr live gestreamt +++
Christian Schweppe erhält den renommierten Otto Brenner Preis für kritischen Journalismus
Der mit 10.000 Euro dotierte 1. Preis für kritischen Journalismus der Otto Brenner Stiftung geht an Christian Schweppe. Sein Beitrag "Wahnsinn. Eine Riesenscheiße", erschienen am 4. Januar 2024 in der ZEIT, überzeugte die Jury durch seine herausragende Recherche und präzise Berichterstattung. "Vertuschen, verschweigen, verstecken" - das war in den Augen der Jury die Strategie der letzten Regierung Merkel nach ihrem Versagen während des Sturms der Taliban auf Kabul im August 2021. Warnungen der Verbündeten wurden über Wochen und sogar Monate ignoriert, selbst alarmierende Berichte und E-Mails der deutschen Botschafterin in Washington nahm man in Berlin nicht ernst. Das Kanzleramt und der Bundesnachrichtendienst waren unvorbereitet, die Evakuierung war unkoordiniert und verlief chaotisch. Vielen tausend afghanischen Helfer*innen wurde keine sichere Flucht ermöglicht.
Wie stark dieses Fiasko selbst verschuldet war, erfuhr die Öffentlichkeit erst zweieinhalb Jahre später. Nach Auffassung der Jury war dies nur möglich, "weil der Journalist Christian Schweppe mit unendlicher Akribie neun Monate lang Hunderte von Aktenvermerken, E-Mails und Protokollen auswertete und in vielen Gesprächsstunden mit Insidern dem kollektiven Versagen aller Verantwortlichen nachgegangen ist".
Die Jury lobt Schweppes Investigativreport über das deutsche Kabul-Desaster als "Meisterstück des kritischen Journalismus" und begründet ihre Entscheidung: "Grandios recherchiert und ebenso flüssig wie präzise geschrieben, bietet die Lektüre seines atemberaubenden Artikels einen tiefen Einblick in das klägliche Versagen der Verantwortlichen." Schweppes Arbeit beleuchtet, so die Jury, einen Regierungsapparat, "der sich mangels kritischer Prüfung durch wache Bürger*innen und Parlamentarier*innen in organisierter Verantwortungslosigkeit selbst lähmte".
stern Investigativ-Team erhält den 2. Preis für Tesla-Recherche
Der 2. Preis (5.000 Euro) geht an das Team um Christian Esser, Manka Heise und Tina Kaiser für ihre einjährige Recherche zu Tesla. Die neue Fabrik des E-Autobauers im brandenburgischen Grünheide gilt als Erfolg deutscher Industriepolitik mit hohem Arbeitsplatzeffekt. Das 16-köpfige Team von stern Investigativ/RTL hat ein Jahr lang hartnäckig recherchiert und verschleierte Vorfälle rekonstruiert. Es dokumentiert die Vorgänge und zeichnet so das Bild einer verantwortungslosen kapitalistischen Unternehmung: Arbeitsschutz wird missachtet, schwere Unfälle werden in Kauf genommen, Umweltverschmutzungen sind fast an der Tagesordnung. Gewerkschaftliche Interessenvertretung im Tesla-Werk ist unerwünscht, die legitime Wahrnehmung von Arbeitnehmer*inneninteressen wird behindert, Anwohner*innen sind besorgt über die potenzielle Bedrohung des Grundwassers durch diese riesige Autofabrik in ihrer Nachbarschaft.
Trotz aller Probleme neigen die Behörden zum Wegschauen und Dulden von offensichtlichen Gesetzesverstößen. Journalistische Nachfragen werden nur schmallippig beantwortet. Die Jury bezeichnet den Tesla-Report als eine "investigative Tiefenbohrung im schillernden Reich des Elon Musks. Die Journalist*innen kratzten am Image des eigenwilligen US-Unternehmers und zeigten die nachteiligen Folgen von unkontrolliertem Kapitalismus für Arbeitnehmer*innen". Dass bei der Recherche der gesamte Besteckkasten des investigativen Journalismus zum Einsatz kam, lobt die Jury ebenso, wie sie die viermediale Aufbereitung als gelungen bezeichnet - Fernsehen auf RTL, Magazinstory im stern, umfangreiche Begleitberichterstattung auf stern.de und fünfteiliger Podcast: "Die darstellerischen Potenziale aller vier Medien wurden hervorragend ausgereizt." Hinsehen, wo andere wegsehen: Das Team von stern Investigativ/RTL hat die journalistische Kontrollfunktion mit Konsequenz und Präzision wahrgenommen. Die preiswürdige Anstrengung wurde international aufgegriffen und führte zu Nachfragen im Landtag von Brandenburg und zu ministeriellen Mahnworten.
3. Preis für Berichterstattung über rechtsextreme Umtriebe im Jugendheim Hohenlohe
Der 3. Preis (3.000 Euro) geht an Jens Sitarek, Timo Büchner und Harald Zigan, die im "Hohenloher Tagblatt" über ein Vernetzungszentrum der extremen Rechten berichtet haben. Die Jury würdigt damit "die kenntnisreiche und kontinuierliche Berichterstattung über rechtsextreme Umtriebe im sogenannten Jugendheim Hohenlohe". Das Gebäude, ein altes Bauernhaus, gehört dem antisemitischen Bund für Gotterkenntnis (Lehre von Mathilde Ludendorff), der es Neonazis und Völkischen aus Südwestdeutschland zur Verfügung stellt. Die Veranstaltungsbesucher*innen reisen aus ganz Deutschland nach Hohenlohe. Aus Sicht der Jury gelingt dem Lokalreporter-Team ein "effektiver und exemplarischer Lokaljournalismus", der Beobachtungen vor Ort mit "Hintergrundwissen über die Strukturen und die Ideologie der Betreiber verbindet". Der Ton der Autoren wird von der Jury als "sachlich" gelobt, Kommentar und Bericht werden sauber getrennt. Die Berichterstattung im "Hohenloher Tagblatt" schuf die Grundlage dafür, dass sich Bürger*innen und Vereine 2023 zum Kirchberger Bündnis zusammenschlossen, um gegen die Aktivitäten des Bundes für Gotterkenntnis zu protestieren.
Günter Wallraff erhält die "Besondere Auszeichnung" für sein Lebenswerk
Mit der "Besonderen Auszeichnung", dotiert mit 10.000 Euro, ehrt die Jury im Jubiläumsjahr des Preises den 82-jährigen Investigativ-Journalisten und Schriftsteller Günter Wallraff für sein Lebenswerk. Die Jury bezeichnet ihn als "eine Legende" - er habe "mit seinen Recherchen, seinen Reportagen und Büchern deutsche und europäische Geschichte geschrieben". Wallraff habe über Repressionen in Betrieben und in Diktaturen nicht nur berichtet. "Er habe sie erlitten", schreibt die Jury. Als Reporter und Aufklärer sei er "abgehört, verfolgt und als politischer Gefangener gefoltert worden - aber auch gelobt, gepriesen und gefeiert". Die Jury urteilt über den Investigativ-Journalisten Günter Wallraff und sein Lebenswerk: "Er ist ein ganz Großer des Journalismus."
Manuel Biallas erhält den Newcomerpreis für Recherche über türkischen Nationalismus
Der Newcomerpreis, dotiert mit 2.000 Euro, geht an Manuel Biallas, der zum aufstrebenden Phänomen des türkischen Nationalismus in Deutschland und den damit verbundenen Einflüssen der Grauen Wölfe recherchiert hat. Nach Auffassung der Jury rückt Biallas Beitrag für das NDR-Medienmagazin "ZAPP" ein Thema in den Mittelpunkt, das Außenstehenden bisher zu wenig bekannt ist: den langen medialen Arm Erdogans nach Deutschland. Er zeigt auf, wie antikurdischer Rassismus und türkischer Nationalismus auf TikTok und in anderen sozialen Netzwerken verbreitet werden.
"Dank beeindruckender Hartnäckigkeit und intensiver Recherche", so die Jury, gelingt es Manuel Biallas erfolgreich, "die emsige Arbeit der AKP mithilfe von Influencern" zu zeigen, die versuchen, die türkeistämmigen Deutschen hierzulande zum Teil mit Fake News zu lenken. In den Augen der Jury hat Manuel Biallas "eine beeindruckende Rechercheleistung" vorgelegt.
"The Gaza Project" erhält Auszeichnung für innovative Medienprojekte
Im Wettbewerb um die Brenner-Preise zeichnet die Jury auch innovative und wegweisende Medienprojekte mit 2.000 Euro aus. Der Preis geht an Kolleg*innen von paper trail media, die für SPIEGEL, ZDF, STANDARD und TAMEDIA zusammen mit weltweit 50 Journalist*innen am "The Gaza Project" gearbeitet haben. Noch nie wurden in einer kriegerischen Auseinandersetzung so viele Journalist*innen getötet wie im aktuellen Israel-Gaza-Krieg. Die viermonatige, von der Pariser Non-Profit-Redaktion Forbidden Stories koordinierte Recherche, an der auch arabische und israelische Medien beteiligt waren, untersucht die Umstände der überdurchschnittlich hohen Todeszahlen.
Die Recherche legt nahe, so die Jury, "dass Israel den Tod palästinensischer Journalist*innen mindestens in Kauf nimmt, wenn nicht in einigen Fällen sogar wollte". So werfe die Untersuchung auch "ein Licht auf den skandalösen Umstand, dass Israel bis heute keine internationalen Pressevertreter*innen in den Gaza-Streifen einreisen lässt", schreibt die Jury. "Das Gut der Pressefreiheit und der Schutz der Presse sind in demokratischen Staaten nicht verhandelbar", bekräftigt die Jury in der Begründung.
Drei Recherche-Stipendien für investigative Projekte vergeben
Die Jury vergibt in diesem Jahr wieder drei Recherche-Stipendien, die jeweils mit 5.000 Euro gefördert und von einem journalistischen Mentor begleitet werden. Nelli Tügel, Paul Dziedzic und Jan Ole Arps recherchieren zur "Ausbeutung ausländischer Auszubildender". Sie wollen Licht auf die Schattenseite der Fachkräftesuche lenken und untersuchen, wie junge Arbeitskräfte für eine betriebliche Ausbildung nach Deutschland geholt und mit "Knebelverträgen" in Zwangslagen gebracht werden.
Die Wienerin Ruth Eisenreich will erforschen, wie oft österreichische Familiengerichte häusliche Gewalt "kleinreden" und trotz entsprechender Vorwürfe entscheiden, dass das Kind beim mutmaßlich gewalttätigen Elternteil leben soll. Jonas Seufert untersucht unter dem Arbeitstitel "Hätte, hätte, Lieferkette" die Macht großer Unternehmen über unser Obst und Gemüse. Er will zeigen, welche Verantwortung Supermärkte für die prekären Bedingungen auf Europas Feldern haben und wie Unternehmen Einfluss auf politische Entscheidungen zu Landwirtschaft und Lieferketten nehmen.
Die Preisverleihung findet am Dienstag, 12. November 2024, in Berlin statt und kann ab 17:00 Uhr im Livestream über die Internetseiten der Stiftung verfolgt werden. Die Otto Brenner Stiftung ( www.otto-brenner-stiftung.de) feiert mit dem Otto Brenner Preis für kritischen Journalismus in diesem Jahr ein Jubiläum: Sie vergibt den Preis bereits zum 20. Mal. Insgesamt wurden bisher mehr als 10.000 Bewerbungen eingereicht. Prämiert werden journalistische Arbeiten, die das Motto der Ausschreibung "Gründliche Recherche statt bestellter Wahrheiten" beispielhaft umgesetzt haben. Aus mehr als 560 Bewerbungen wählte die Jury Mitte September in Frankfurt am Main die Preisträger*innen in fünf Kategorien aus. Das Preisgeld beträgt insgesamt 47.000 Euro.
Jurymitglieder sind: die freie Journalistin und Medienexpertin Brigitte Baetz (u. a. Deutschlandfunk, Sendung "mediasres"), Korrespondentin Nicole Diekmann (ZDF-Hauptstadtstudio Berlin), Prof. Dr. Volker Lilienthal (Universität Hamburg, Rudolf-Augstein-Stiftungsprofessur für Qualitätsjournalismus), Henriette Löwisch (Leiterin der Deutschen Journalistenschule in München, DJS), Prof. Dr. Heribert Prantl (Kolumnist und Autor, "Süddeutsche Zeitung"), Harald Schumann (Mitbegründer Investigate Europe, Redakteur für besondere Aufgaben, "Der Tagesspiegel") sowie Christiane Benner (1. Vorsitzende der IG Metall und seit März 2024 OBS-Verwaltungsratsvorsitzende).
Informationen zu den prämierten Beiträgen, zu den Preisträger*Innen und den Mitgliedern der Jury finden Sie unter www.otto-brenner-preis.de
Pressekontakt:
Otto Brenner Stiftung
Geschäftsführer
Jupp Legrand
Telefon: 069 - 6693 2810
E-Mail: info(at)otto-brenner-stiftung.de
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