Hakenkreuz adieu: Tätowierer in Siegen helfen Aussteigern aus der rechtsextremen Szene, ihre Vergangenheit hinter sich zu lassen – mit Tinte.
17.01.2025 - 05:00:40Dieses Tattoo-Studio verwandelt Reichsadler in Eulen
Etwas zögerlich zieht Michael seine Jeans herunter. Normalerweise vermeidet es der 37-jährige Mann, sich in der Öffentlichkeit umzuziehen. Zu groß ist die Scham über das, was sich unter seiner Jeans befindet: Auf seinem Oberschenkel prangt ein Reichsadler-Tattoo mit Hakenkreuz. Das Symbol ist ein Überbleibsel aus einem dunklen Kapitel seines Lebens, als er mit Anfang 20 für vier Jahre Teil der rechtsextremen Szene war. Heute möchte er nichts mehr mit dieser Zeit zu tun haben.
Viel lieber wolle er sich darauf konzentrieren, seinen Sohn aufzuziehen, sagt Michael. «Ich bin eigentlich viel lieber ein netter Mensch, statt andere zu hassen». Doch trotz seines Gesinnungswandels gibt es Hürden auf dem Weg zu einem normalen Leben. Als Gärtner müsse er sich jeden Tag in einer Sammelumkleide mit seinen Kollegen umziehen und dabei geschickt sein Tattoo verbergen, erzählt er. Im Sommer trage er nur ungern kurze Hosen – zu groß ist die Angst vor Ausgrenzung.
«Ziemlich ekelhaftes Gefühl, damit weiterzuleben»
Das soll sich ab heute ändern. Michael steht an diesem Donnerstag im Dezember halb nackt im Tattoo-Studio «On the Rocks» in Siegen, wo er einen Termin für ein sogenanntes Cover-Up-Tattoo hat. Das Studio ermöglicht neuerdings einmal im Monat Aussteigern aus der rechtsextremen Szene, ihre alten Nazi-Tattoos durch neue Motive übermalen zu lassen, kostenlos.
Für Michael (Name geändert) eine große Chance: «Ich laufe jetzt seit über 13 Jahren mit diesem Tattoo auf dem Bein rum. Das ist ein ziemlich ekelhaftes Gefühl, damit weiterzuleben, wenn man diese Einstellung nicht mehr vertritt.» Lange Zeit habe er keine Möglichkeit gesehen, das Tattoo überdecken zu lassen. «Die Tätowierer, die ich darauf angesprochen habe, haben mir immer so was zwischen 1500 und 2000 Euro aufwärts genannt. Ich verdiene halt nicht so viel, dass ich mir so was mal eben so aus dem Ärmel schütteln kann.»
«Schon ein Jahr Warteliste»
Deshalb sei er umso dankbarer für das Angebot von Studioinhaberin Lisa Meurer. Auch sie weiß, wie schwierig es für Betroffene ist, diesen Schritt zu gehen. «Viele schämen sich oder trauen sich nicht». Oft werde sie gefragt, ob das Angebot ein Witz sei oder wo der Haken sei, erzählt sie. Die Resonanz auf die Aktion sei aber bisher «unglaublich positiv»: Ständig erhalte sie jetzt Anrufe mit unterdrückter Nummer. «Wir haben so viele Anfragen, dass wir schon ein Jahr Warteliste haben».
Mehr als ein Termin im Monat sei aktuell finanziell nicht drin. Denn jedes kostenlose Cover-Up bedeute einen Ausfall von rund 600 Euro für das Studio. Beim letzten Aussteiger hätten sie aus einem riesigen Reichsadler auf der Brust eines Aussteigers eine große Eule gemacht, erzählt Meurer. Dafür seien gleich mehrere Sitzungen notwendig gewesen.
Tattoos statt «Demos gegen Rechts»
Die Idee für die Aktion hätte sie gemeinsam mit ihrem Partner und Tätowierer Luke gehabt. Als Anfang 2024 eine Welle von «Demos gegen Rechts» durch das Land schwappte, hätten sich die beiden gefragt: «Wie können wir einen Beitrag leisten, der tatsächlich etwas bewirkt, anstatt einfach nur irgendwo hinzugehen und den Mund aufzumachen und gegen eine Wand zu reden.»
Angst vor Anfeindungen aus der rechten Szene habe sie keine. «Wir verurteilen ja niemanden aus der rechten Szene. Wir helfen lediglich den Leuten, die aus dieser Szene rauswollen und ein neues Leben wollen.»
Arbeit mit Aussteigern verändert sich
Auch Eva Müller, Leiterin des bundesweiten Aussteigerprogramms Wendepunkt vom Bundesamt für Verfassungsschutz, betont, wie wichtig solche niedrigschwelligen Hilfsangebote seien. «Die erste große Hürde für Ausstiegswillige ist es, überhaupt in Kontakt zu treten. Ehemalige Rechtsextremisten befinden sich quasi im gesellschaftlichen Aus. Die haben dieses Stigma, Nazi zu sein, was es sehr schwer macht, Hilfe von außen anzunehmen.»
Auch das Programm Wendepunkt bietet Ausstiegswilligen Cover-Up-Tattoos an. Maßnahmen wie diese stehen laut Müller stellvertretend für eine grundlegende Veränderung in der Arbeit mit Aussteigern in den vergangenen Jahren: «Früher lag der Fokus sehr stark auf ideologischer Distanzierungsarbeit. Aussteiger bringen aber eine ganze Bandbreite an Problemen mit: Psychische Erkrankungen, Sucht, prekäre finanzielle Verhältnisse oder zerrüttete Familien. Viele Personen suchen einfach Halt, Anerkennung und Stabilität im Leben».
Oft persönliche Wendepunkte, die zu Ausstieg führen
Die soziale Stabilisierung stehe heute an erster Stelle, «um Betroffenen auf dem Weg in ein neues Leben außerhalb des Rechtsextremismus zu helfen.» Das Überdecken rechtsextremistischer Tattoos - die oft die Zugehörigkeit zur rechtsextremistischen Szene markiert haben – könne dabei ein wichtiger Schritt aus dem gesellschaftlichen Abseits in Richtung Reintegration sein.
Müller sagt, es seien oft persönliche Wendepunkte im Leben, die einen Ausstieg aus der Szene auslösen: Eine neue Beziehung etwa, ein Jobwechsel oder die Geburt eines Kindes. Michael erzählt, dass bei ihm neun Monate im Gefängnis zu einem Umdenken geführt haben. Wegen einer Geldstrafe habe er in Haft gemusst und dort keine Drogen mehr nehmen können.
Narben bleiben für immer spürbar
«In der JVA hatte ich das erste Mal über längere Zeit einen klaren Kopf, habe ziemlich vieles aus meinem Leben mal so Revue passieren lassen und konnte mich danach einfach überhaupt gar nicht mehr damit identifizieren.»
Nach etwa vier Stunden unter der Nadel haben sich Reichsadler und Hakenkreuz auf Michaels Oberschenkel in einen imposanten Panther verwandelt. «Ich bin froh, dass mein Sohn das nicht an mir sehen muss», sagt Michael. Doch auch wenn die Symbole nicht mehr sichtbar sind, wird Michael sie niemals vollständig loswerden: Die Narben alter Tattoos blieben auch unter dem Cover-Up für immer spürbar, sagt Lisa Meurer.