In der Flugblatt-Affäre versucht es Bayerns Vize-Regierungschef Aiwanger mit einer Entschuldigung und einem Gegenangriff.
01.09.2023 - 05:14:24Aiwanger bleibt auch nach Entschuldigung unter Druck. Doch die Kritik an dem Freie-Wähler-Chef hält an. Und auch Söder erhöht den Zeitdruck.
Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) bezeichnet die Entschuldigung seines Stellvertreters Hubert Aiwanger in der Affäre um ein altes antisemitisches Flugblatt als überfällig.
Gleichzeitig erhöhte er den zeitlichen Druck auf den Freie-Wähler-Chef, die 25 an ihn gestellten Fragen nun rasch schriftlich zu beantworten. «Am besten noch heute», wie Söder am Rande eines Termins im mittelfränkischen Bechhofen sagte. Eine förmliche Frist setzte er Aiwanger damit allerdings weiterhin nicht.
Söder will Entscheidung erst danach treffen
Erst danach will Söder eine abschließende Entscheidung treffen, wie es weitergeht: ob er Aiwanger gut einen Monat vor der Landtagswahl entlässt oder nicht. «Ob es am Ende alles ausreicht, wird man erst nach der Beantwortung der Fragen entscheiden», sagte der CSU-Chef.
«Die Entschuldigung gestern war dringend notwendig», sagte Söder. «Sie war auch überfällig. Und deswegen ist das ein wichtiger Moment gewesen.» Es blieben aber noch viele Fragen offen. «Für mich ist wichtig, dass die 25 Fragen jetzt umfassend und glaubwürdig beantwortet werden, und zwar zeitnah. Und zeitnah heißt am besten noch heute, im Laufe des Tages.» So dass dann für ihn eine faire, abgewogene und glaubwürdige Entscheidung möglich sei, betonte er.
Was ist bisher passiert?
Aiwanger hatte bereits am Samstag schriftlich zurückgewiesen, zu Schulzeiten ein antisemitisches Flugblatt geschrieben zu haben, über das die «Süddeutsche Zeitung» in ihrer Wochenendausgabe berichtet hatte. Gleichzeitig räumte er aber ein, es seien «ein oder wenige Exemplare» in seiner Schultasche gefunden worden. Kurz darauf gestand Aiwangers älterer Bruder ein, das Pamphlet geschrieben zu haben.
Am Donnerstag entschuldigte sich Aiwanger dann erstmals öffentlich. In Bezug auf die Vorwürfe blieb er bei bisherigen Darstellungen - insbesondere, dass er das Flugblatt nicht verfasst habe und dass er sich nicht erinnern könne, als Schüler den Hitlergruß gezeigt zu haben. Gleichzeitig ging der Freie-Wähler-Chef zum Gegenangriff über, beklagte eine politische Kampagne gegen ihn und seine Partei.
«Ich bereue zutiefst, wenn ich durch mein Verhalten in Bezug auf das in Rede stehende Pamphlet oder weitere Vorwürfe gegen mich aus der Jugendzeit Gefühle verletzt habe», sagte Aiwanger. «Meine aufrichtige Entschuldigung gilt zuvorderst allen Opfern des NS-Regimes, deren Hinterbliebenen und allen Beteiligten und der wertvollen Erinnerungsarbeit.» Von einem möglichen Rücktritt war keine Rede.
Katalog mit 25 Fragen
Söder hatte seinem Vize schon am Dienstag einen Katalog mit 25 Fragen zu den im Raum stehenden Vorwürfen zur schriftlichen Beantwortung vorgelegt. Ein Sprecher Aiwangers sagte dazu am Donnerstag, diese würden nun «zeitnah» beantwortet, er nannte aber keinen Termin.
Die Kritik an Aiwanger riss auch nach dessen Entschuldigung bislang nicht ab. Der Präsident des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, sagte der «Bild»: «Die Entschuldigung von Hubert Aiwanger bei den Opfern und Hinterbliebenen der Schoah war ein guter, wenn auch längst überfälliger Schritt.» Aber: «Bedauerlicherweise verbindet er dies mit einer Klage über eine politische Motivation der Vorwürfe und lässt weiterhin den Willen zu offener Aufklärung vermissen.»
Journalistenverband weist Aiwangers Kampagnen-Vorwurf zurück
Der Deutsche Journalisten-Verband (DJV) wies Aiwangers Vorwurf zurück, Medien würden das antisemitische Flugblatt aus seiner Schulzeit für eine politische Kampagne gegen ihn nutzen. Der DJV-Bundesvorsitzende Frank Überall bezeichnete die Vorhaltungen des Freie-Wähler-Chefs als «kruden Unsinn, mit dem Hubert Aiwanger bei den Verschwörungsideologen andockt».
Es sei unbegreiflich, dass Aiwanger als Vize-Ministerpräsident eines großen Bundeslandes noch nicht einmal rudimentäre Kenntnisse über Journalismus und Medien besitze, sagte Überall. Es sei Aufgabe von Journalistinnen und Journalisten, kritisch über das politische Spitzenpersonal zu berichten, «auch wenn das den Damen und Herren Politikern nicht gefällt». Es gehe die Menschen eine Menge an, ob ein Politiker in seinem Leben vielleicht eine Nähe zum Antisemitismus gehabt habe, sagte Überall. Statt einen Kampagnenvorwurf zu stricken, solle Aiwanger aktiv zur Aufklärung der Vorwürfe beitragen.
Lebensgefährtin: Aiwanger über Vorwürfe «wirklich erschüttert»
Laut seiner Lebensgefährtin Tanja Schweiger ist Aiwanger über die Vorwürfe gegen ihn «wirklich erschüttert». Der Freie-Wähler-Chef sei jemand, «der integriert und nicht ausgrenzt», sagte die Landrätin des Landkreises Regensburg (ebenfalls Freie Wähler) dem TV-Sender Welt. Sie bekomme in dem Zusammenhang E-Mails mit Unterstützung von «wildfremden Leuten». «Die sagen: Der soll durchhalten, wir setzen auf ihn», sagte Schweiger. «Die Solidarität wird täglich größer.»
Schweiger kritisierte zudem Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), der die Vorwürfe gegen Aiwanger als «sehr bedrückend» bezeichnet und Aufklärung gefordert hatte. «Wenn man einen Bundeskanzler hat, der sich an Vorgänge vor sechs Jahren nicht mehr erinnern kann, wo er eigene Akten dazu hat, wo er aktiv im Handeln war, dann sollte genau derjenige vorsichtig sein, Dinge einzufordern, die 35 Jahre her sind», sagte Schweiger mit Blick auf Scholz' Äußerungen zu seiner Rolle im Steuerskandal bei der Hamburger Warburg-Bank. «Mit dem Finger auf andere zu zeigen und selbst Lücken offen zu machen, zeigt natürlich auch, wo der Wind her weht.»