Linksextremismus, Lina E.

Harte Strafen und lauter Protest: Lina E.

31.05.2023 - 14:40:18

Lina E.-Prozess: Haftstrafen für Gewalttäter und Proteste. soll für Jahre hinter Gitter, weil sie maßgeblich für Überfälle auf Neonazis verantwortlich gemacht wird. Die Frage ist nun, wie die linke Szene mit dem Urteil umgeht.

  • Ein Graffiti prangt an einem Wohnhaus im Leipziger Süden. - Foto: Jan Woitas/dpa

    Jan Woitas/dpa

  • Eine Demonstrantin vor dem Oberlandesgericht Dresden mit eindeutiger Botschaft auf den Socken. - Foto: Robert Michael/dpa

    Robert Michael/dpa

Ein Graffiti prangt an einem Wohnhaus im Leipziger Süden. - Foto: Jan Woitas/dpaEine Demonstrantin vor dem Oberlandesgericht Dresden mit eindeutiger Botschaft auf den Socken. - Foto: Robert Michael/dpa

Als das Oberlandesgericht Dresden das Strafmaß gegen Lina E. und drei weitere linke Gewalttäter verkündet, ist die Spannung im Hochsicherheitssaal fühlbar. Und die Wut ihrer Unterstützer entlädt sich am Mittwoch mit Wucht: Sie skandieren Sprechchöre, erklären den Vorsitzenden Richter zum «Fascho»-Freund und geißeln die «Scheiß-Klassenjustiz».

Hans Schlüter-Staats, der Lina E. wegen mehrerer Angriffe auf Rechtsextreme zu fünf Jahren und drei Monaten Haft verurteilt, unterbricht daraufhin die Verhandlung. Bei der Urteilsbegründung haben sich dann die Gemüter beruhigt - bis auf etwas Murren und Meckern. Kurzzeitig gibt es aber noch Tumulte, nachdem eine Frau wegen Störversuchen des Saales verwiesen wird.

Gegen die drei Mitbeschuldigten von Lina E. verhängt die Staatsschutzkammer Freiheitsstrafen zwischen zwei Jahren fünf Monaten und drei Jahren drei Monaten. Nach Ansicht der Kammer sind die 28 Jahre alte Studentin und ein gleichaltriger Mann der Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung schuldig; ein 37-Jähriger und ein weiterer 28-Jähriger wegen deren Unterstützung. E. und zwei der Männer müssen sich zudem wegen gefährlicher Körperverletzung verantworten, der andere wegen Beihilfe dazu.

Nach dem Urteil werden bei Kundgebungen nun auch Ausschreitungen befürchtet. Am Mittwochabend zogen Sympathisanten durch Dresden. Die Polizei machte zunächst keine Angaben zu den Teilnehmerzahlen, ein dpa-Reporter schätzte sie im niedrigen Hunderter-Bereich. Die Demonstrantinnen und Demonstranten hielten Transparente mit der Aufschrift «Free Lina». Zu ähnlichen Demos war in zahlreichen deutschen Städten aufgerufen worden, darunter Berlin, Hamburg und am späteren Abend in Leipzig.

Für Samstag wird bundesweit zu Kundgebungen aufgerufen. Im Internet tauchten Drohungen auf, wonach für jedes Jahr Haft in Leipzig ein Sachschaden von einer Million Euro angerichtet werden soll. Die Polizei bereitet sich auf einen Großeinsatz vor.

Acht Jahre Freiheitsstrafe gefordert

Das Gericht blieb mit dem verhängten Strafmaß unter den Anträgen der Bundesanwaltschaft, die den Angeklagten eine «militant- linksextremistische Ideologie» bescheinigt hatte. Für die aus Kassel in Hessen stammende junge Frau hatte sie acht Jahre Freiheitsstrafe gefordert, für die drei Männer zwischen zwei Jahren und neun Monaten sowie drei Jahren und neun Monaten.

Von einer Rädelsführerschaft von E. geht die Kammer aber nicht aus. Sie sieht in ihr eine «Überblicksperson», die an Trainings und als Mitglied der Vereinigung seit 2018 an der Vorbereitung von Angriffen auf Anhänger der rechten Szene beteiligt war. Schlüter-Staats begründete die «maßvolle Strafe» von E. auch damit, dass es in ihrem Fall eine erhebliche Verletzung von Persönlichkeitsrechten gab.

Der Generalbundesanwalt warf den Beschuldigten vor, zwischen 2018 und 2020 tatsächliche oder vermeintliche Anhänger der rechten Szene in Leipzig, Wurzen und Eisenach brutal zusammengeschlagen zu haben. Ein Kronzeuge hatte sie belastet. Laut Anklage wurden 13 Menschen verletzt, zwei davon potenziell lebensbedrohlich. Die Beschuldigten hätten den demokratischen Rechtsstaat ebenso abgelehnt wie das staatliche Gewaltmonopol, lautete eine weitere Anschuldigung.

Richter: «Es bleiben schwere Straftaten»

In seinen Vorbemerkungen ging Schlüter-Staats auf die brutalste Tat ein: Im Januar 2019 traf es einen Kanalarbeiter, der im Leipziger Szene-Viertel Connewitz bei der Arbeit war, aber «die falsche Mütze am falschen Ort trug», wie Schlüter-Staats es ausdrückte. Denn das Label der Mütze ist bei Rechtsextremen beliebt. Der Mann erlitt schwerste Kopfverletzungen, darunter Schädelbrüche. Die Tat zeige, wohin militanter Antifaschismus führe könne, sagte der Vorsitzende Richter.

Schlüter-Staats befasste sich zudem mit dem Vorwurf der Verteidigung, das Verfahren sei ein «politischer Prozess» und stimmte dem sogar in zweierlei Hinsicht zu. Die Taten seien aus einer politischen Motivation heraus begangen worden - dem Kampf gegen den Faschismus. Von rechter Gewalt gehe derzeit die größte Gefahr in Deutschland aus. Sich Rechtsextremen entgegenzustellen sei ein «achtenswertes Motiv», rechtfertige aber nicht die angeklagten Fälle. «Es bleiben schwere Straftaten.» Zum anderen habe die Verteidigung die Angeklagten mit einer «propagandistischen Begleitmusik» zu Opfern eines angeblichen «Repressionsstaates» gemacht.

Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) begrüßte das Urteil. «Wir müssen unsere liberale Demokratie schützen vor ihren Feinden, doch nicht mit Selbstjustiz», schrieb er auf Twitter. Innenministerin Nancy Faeser (SPD) sieht eine zunehmende Gefahr durch linksextreme Gewalttäter. «In linksextremistischen Gruppen sind Hemmschwellen gesunken, politische Gegner auch mit äußerster Brutalität anzugreifen», sagte sie in Bezug auf das Urteil.

Der Co-Vorsitzende der Grünen Jugend, Timon Dzienus, stellte das Urteil infrage. «Mit einem völlig übertriebenem und auf fragwürdigen Indizien beruhenden Prozess wird mit aller Härte gegen LinaE und andere Linke vorgegangen», schrieb Dzienus am Mittwoch auf Twitter. «Was für ein Quatsch - deshalb FreeLina!»

Der CDU-Bundestagsabgeordnete Christoph de Vries kritisierte die Äußerungen von Dzienus. «Keine Distanz zur Gewalt und linksextremistischen Straftätern. Ich denke, die Grüne Jugend hat ein echtes Extremismusproblem», schrieb er auf Twitter. «So ein Sprecher wäre in jeder demokratischen Jugendpartei untragbar.» Er forderte die Grünen zum Handeln auf.

Prozess mit hohen Sicherheitsvorkehrungen

Der Prozess unter hohen Sicherheitsvorkehrungen hatte im September 2021 begonnen. Lina E. war da schon zehn Monate in Untersuchungshaft, die drei Männer indes weiter auf freiem Fuß. Bis auf Angaben zur Person schwiegen sie zu den Vorwürfen. Nur E. ergriff beim «letzten Wort» die Chance und sagte «Danke», zu ihrer Familie, Anwälten und Unterstützern. Die machten vor dem Gebäude mit Musik und Reden fast ein Happening, aber mit Protest. «Wir sind entsetzt, wütend und noch immer sprachlos», hieß es in einem vor mehreren Dutzend Teilnehmern in Zelten verlesenen Grußwort der Angeklagten-Mütter. Sie kritisierten scharf, «mit welcher Härte linke Strukturen verfolgt werden», während Neonazis Schonbehandlung erhielten. «Was für eine Farce.»

Die Verteidigung hatte von Anfang an den Umstand moniert, dass die GBA die Ermittlungen an sich zog. Allein das habe zu höheren Strafanträgen geführt, argumentierten sie in ihren Plädoyers, die auf Freisprüche zielten. Sie sahen ihre Mandanten einer Vorverurteilung ausgesetzt und warfen den Bundesanwälten vor, bei rechten und linken Straftätern unterschiedliche Maßstäbe anzusetzen. Dem Gericht wurde unterstellt, voreingenommen zu sein.

«Viele neue Freunde gefunden»

Was Sicherheitsbehörden umtreibt, ist nicht zuerst die unmittelbare Reaktion auf das Urteil. Experten befürchten eine Radikalisierung der linken Szene und sehen seit längerem Belege dafür, etwa was das Vorgehen gegen «politische Gegner» betrifft. Laut Verfassungsschutz sinkt die Hemmschwelle zur Ausübung von Gewalt immer mehr, von einer «besorgniserregenden Entwicklung» ist die Rede. Es gehe nicht mehr nur um Sachbeschädigungen, sondern um gezielte Attacken auf Personen. Selbst deren Tod werde in Kauf genommen.

Dirk Münster, Chef des Polizeilichen Terrorismus- und Extremismus- Abwehrzentrums beim Landeskriminalamt Sachsen, misst dem Verfahren gegen Lina E. große Bedeutung zu. «Im Grunde genommen haben wir gerade erst angefangen», sagte er kürzlich einer Zeitung. Tatsächlich gibt es Ermittlungen gegen weitere Personen aus dem Umkreis von E.. Manche davon wie E.s Lebensgefährte sind «professionell abgetaucht», heißt es. Sie kündigen Konten, Jobs und Wohnungen, sind fortan auf Unterstützer angewiesen. Auf die Solidarität der Szene, die an jedem Verhandlungstag in Dresden präsent war, können sich Lina E. und die drei Männer auch künftig verlassen, wie ihre Mütter versicherten: «Wir haben in dem Prozess viele neue Freunde gefunden.»

@ dpa.de