Aktienmärkte, Anleger

Evergrande-Insolvenz: Bringt dieser Stein eine Lawine ins Rollen?

Evergrande beantragt Gläubigerschutz – bringt dieser Stein eine Lawine ins Rollen?
von Sven Weisenhaus

China Evergrande hat vorgestern in den USA Gläubigerschutz beantragt. „Ausgerechnet jetzt!“, könnte man sagen. Denn mehr als ein Jahr lang war von dem Unternehmen wenig zu hören bzw. zu lesen. Hier im kostenlosen Newsletter „Börse-Intern“ hatte ich zuletzt  am 19. April 2022 über den hochverschuldeten Immobilienkonzern berichtet, bevor ich am 18. Juli 2023 angesichts der sich häufenden Negativ-Nachrichten aus der zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt darauf hinwies, das Evergrande mit den lange erwarteten Bilanzdaten einen Nettoverlust von umgerechnet sagenhaften 72 Milliarden Euro für die vergangenen 2 Jahre auswies. Und am vergangenen Dienstag wurden Erinnerungen an das Unternehmen wach, als Anleihen des ebenfalls hochverschuldeten chinesischen Immobilienkonzerns Country Garden vom Handel ausgesetzt wurden.

Nachricht trifft auf schwächelnde Aktienmärkte

Nun verschärft sich die Krise also mit dem Antrag nach Kapitel 15 des US-Insolvenzrechts. Und das ausgerechnet jetzt, wo sich die Aktienmärkte gerade in einer saisonal schwachen Phase befinden. Diese hat inzwischen selbst bei den extrem starken Aktienindizes in den USA schon seit Monatsbeginn zu fallenden Kursen geführt. Bis Mittwoch konnten die dortigen Rücksetzer, die immer wieder von Kurserholungen gekontert wurden, noch als Konsolidierung nach zuvor starken Kursgewinnen gewertet werden. Doch seitdem hat die Abwärtsbewegung Fahrt aufgenommen.

Sorgen vor einem Flächenbrand

Ein Antrag nach Kapitel 15 des US-Insolvenzrechts bedeutet, dass ausländische Unternehmen vor Ansprüchen von amerikanischen Gläubigern geschützt werden, so lange sie über eine Neuordnung ihrer Schulden verhandeln. Evergrande ist im Ausland über Anleihen, Repo-Geschäfte und besicherte Papiere mit 31,7 Milliarden Dollar verschuldet. Das ist aber nur ein Bruchteil der umgerechnet mehr als 300 Milliarden Dollar, über die das Unternehmen schon seit Wochen und Monaten mit seinen Gläubigern verhandelt. Mit dem aktuellen Schritt wachsen nun natürlich die Sorgen über Zahlungsausfälle in Milliarden-Höhe und mögliche Ansteckungseffekte. Schließlich hat laut Medienberichten keine andere Immobilienfirma weltweit mehr Schulden angehäuft

Zumal vorgestern auch die mit Evergrande verbundene Tianji Holdings Gläubigerschutz nach Kapitel 15 beantragt hat. Und die Longfor Group, neben Country Garden die Nummer zwei der größten privaten Immobilienentwickler in China, kündigte gestern an, angesichts der Lage am Immobilienmarkt beschleunigt an seiner „Gewinnstruktur“ zu arbeiten – was auch immer das konkret heißt. Zeitgleich sprachen der stark im Immobiliensektor investierte Treuhandfonds-Anbieter Zhongrong sowie dessen Großaktionär Zhongzhi von Liquiditätsschwierigkeiten. Zahlungen auf Dutzende Investmentprodukte wurden eingestellt. – Ui, ui, ui, braut sich da ein Sturm zusammen?!

Kommt jetzt die Lawine ins Rollen?

Ich erinnere jedenfalls an den Titel der Börse-Intern vom 10. März: „Ein kleiner Stein kann eine Lawine ins Rollen bringen“. Damals gab es Probleme im US-Bankensystem, was Erinnerungen an die Finanzkrise 2008 aufflammen ließ. Es kam zu Kursverlusten, die sich zuvor allerdings bereits angedeutet hatten, weil die Aktienindizes auch damals bereits eine Konsolidierung nach zuvor starken Kursgewinnen eingeleitet hatten. Schauen wir dazu noch einmal auf den Chart des Dow Jones aus der damaligen Analyse:

Es gab also bereits eine erste Abwärtswelle a, eine Gegenbewegung b, so dass die Bankenprobleme die Welle c entfachten, die es aber womöglich auch ohne die Pleite der Silicon Valley Bank gegeben hätte.

Der S&P 500 sah übrigens zeitgleich wie folgt aus. Auch hier gab es eine abc-Korrektur nach zuvor stark gestiegenen Kursen.

Wiederholt hatte ich obige Weisheit dann am 29. Juni. Titel der damaligen Börse-Intern-Ausgabe: „Wann schlagen die Leitzinsen auf den Arbeitsmarkt durch?“. Diese Frage kann man auch heute noch stellen. Denn bislang ist das immer noch nicht der Fall (siehe auch vorgestrige Börse-Intern). Und auch jetzt könnte ein kleiner Stein – bzw. im Falle von Evergrande wohl eher ein Fels – eine Lawine ins Rollen bringen, womit dieser Satz nun passender, aktueller und akuter scheint denn je.

Allerdings hatten sich auch die aktuellen Kursverluste am Aktienmarkt schon zuvor angedeutet, weil die Aktienindizes erneut starke Kursgewinne verbuchen konnten und nun die saisonal schwache Phase begonnen hat. Mit ihr hatten bereits vor der Evergrande-Meldung Konsolidierungen begonnen, die jetzt „lediglich“ zu Korrekturen geworden sind – vielleicht auch durch die aktuelle Nachrichtenlage, die auf eine veränderte Marktstimmung getroffen ist.

Wenn diese Stimmung allerdings nun komplett kippt – von vorheriger (KI-)Euphorie über Gewinnmitnahmen hin zu Panikverkäufen – dann hätte ein kleiner Stein (erste Gewinnmitnahmen) tatsächlich eine Lawine (Panikverkäufe aus Angst vor einem Flächenband durch Ansteckungseffekte in Folge der Probleme auf dem chinesischen Immobilienmarkt) ins Rollen gebracht.

Der Dow Jones ist unter das Dezember-Hoch zurückgefallen

Charttechnisch sieht es jedenfalls für den Dow Jones schon recht schlecht aus. Zwar befindet sich der Index noch in seinem Aufwärtstrendkanal, sein Ausbruch über das Hoch vom 13. Dezember 2022 hat sich aber als Fehlsignal herausgestellt.

Und so war es aus meiner Sicht vollkommen richtig, dass ich trotz der bullishen Signale, über die ich bei der letzten Dow Jones-Analyse vom 10. August berichtet hatte, skeptisch geblieben bin (siehe „USA: Der Anleihemarkt ist weitaus attraktiver als der Aktienmarkt“).

Zumal ich tags zuvor schrieb: „Erst wenn die Kurse nach unten hin Fahrt aufnehmen, muss man mit einem größeren Rücksetzer rechnen. Das gilt vor allem, wenn dabei das Hoch der ersten Kurserholung vom 13. Dezember bei 34.712,28 Punkten unterschritten wird.“ Und das ist inzwischen der Fall.

Wenn sich die aktuelle Abwärtsbewegung jetzt bei anhaltendem Tempo bis zum Bruch des Aufwärtstrendkanals fortsetzt, haben wir es bereits mit sehr bearishen Signalen zu tun. Die Bullen können dagegen erst wieder bei einem Bruch der kurzfristigen Abwärtstrendlinie und einer Rückkehr in den Konsolidierungsbereich oberhalb von 35.000 Zählern punkten.

S&P 500: Die aktuelle Korrekturwelle ist noch harmlos

Beim S&P 500 ist hingegen noch nicht viel charttechnisches Porzellan zerschlagen worden. Lediglich der aktuelle Aufwärtstrendkanal wurde gebrochen (grün), zeitgleich mit der 50-Tage-Durchschnnittslinie (türkis).

Die Kurse befinden sich aber noch oberhalb des Hochs der Welle D, das vor fast genau einem Jahr (16.08.2022) bei 4.326,50 Punkten markiert wurde. Und der Index hat bislang noch weniger als 38,20 % der Aufwärtsbewegung seit dem März-Tief korrigiert. Der 100-Tage-Durchschnitt (lila) schneidet aktuell das 38,20er Retracement bei 4.303,67 Punkten (grau). In diesem Bereich könnten die Kurse eine Unterstützung finden. Erst wenn diese unterschritten wird, trübt sich auch das Chartbild des S&P 500 stärker ein.

Ich wünsche Ihnen jedenfalls weiterhin viel Erfolg an der Börse
Ihr
Sven Weisenhaus

(Quelle: www.stockstreet.de)

@ ad-hoc-news.de | 19.08.23 07:45 Uhr