Ist die positive Bilanzsaison wirklich noch ein Grund für Aktienkäufe
Vorgestern hatte ich geschrieben, der Gewinnrückgang um 35 % gegenüber dem Vorjahr bei den Unternehmen aus dem S&P 500 sei für die Aktienmärkte kein Problem, weil die zuvor stark reduzierten Erwartungen im Durchschnitt um 22 % geschlagen werden konnten, was es in dieser Höhe seit Beginn der Datenerhebung von FactSet im Jahr 2008 noch nie gab (bisheriger Rekord: 1. Quartal 2010 mit +14,7 %, 5-Jahres-Durchschnitt: +4,7 %). Das klingt natürlich sehr bullish.
Bullish ist auch zu werten, dass die Analysten ihre Gewinnschätzungen für die Unternehmen des S&P 500 für das 3. Quartal 2020 im Juli angehoben haben, und zwar laut FactSet um 1,1 % (siehe folgende Grafik). Denn in den letzten 15 Jahren (60 Quartale) wurden die Schätzungen im ersten Monat eines Quartals im Durchschnitt jeweils um 2,4 % gesenkt. Und die letzte Anhebung der Gewinnschätzungen liegt schon zweieinhalb Jahre zurück (1. Quartal 2018).
Die Gewinnerwartungen lagen auf einem extrem niedrigen Niveau
Man sollte allerdings beachten, dass einerseits die Daten sich noch ändern können, da zum Zeitpunkt dieser Angaben erst 63 % der S&P 500-Unternehmen ihre Bilanzen vorgelegt hatten, und andererseits die Gewinnerwartungen zuvor in einem Rekordtempo reduziert wurden. Für die aktuell noch laufende Berichtssaison des 2. Quartals 2020 wurden die Erwartungen allein im April um stolze 29,0 % gesenkt.
Und im weiteren Verlauf wurden die Erwartungen immer pessimistischer, wie die folgende Grafik aus der Börse-Intern vom 29. Juni noch einmal sehr anschaulich darstellt.
Für die Berichtssaison zum laufenden 3. Quartal 2020 wurden die Prognosen im Verlauf des gesamten 2. Quartals 2020 im Durchschnitt um 23,6 % zurückgeschraubt, bevor es dann wie oben erwähnt im Juli mit +1,1 % wieder in die andere Richtung ging.
Schere zwischen Gewinn- und Kursentwicklung ist extrem weit geöffnet
Keine Frage, grundsätzlich ist es zuträglich für die Aktienkurse, wenn die Erwartungen der Analysten geschlagen oder angehoben werden. Und so zeigen die Aktienmärkte auch aktuell Stärke, insbesondere in den USA mit Blick auf die neuen Trendhochs im S&P 500 und im Nasdaq 100.
Doch ich halte es für riskant, nur auf die positiven Seiten dieser Entwicklung zu schauen. Denn die Gewinne sinken mit dem 2. Quartal 2020 nun schon das 5. Mal in den vergangenen 6 Quartalen gegenüber dem Vorjahreswert. Und die Gewinnerwartungen wurden von einem sehr niedrigen Niveau aus geschlagen bzw. angehoben. Derweil sind die Aktienkurse sehr weit gestiegen.
Dadurch klafft zwischen Gewinn- und Kursentwicklung ein extrem großes Loch, wie die folgende Grafik von FactSet zeigt, die ich schon einige Male hier in der Börse-Intern verwendet habe…
…zuletzt übrigens am 19. Mai. Damals lagen die Gewinnerwartungen für das 2. Quartal 2020 noch bei -41,9 % und für das 3. Quartal 2020 bei -23,8 %. Aktuell wird für das 3. Quartal 2020 ein Gewinnrückgang um -22,9 % erwartet (siehe auch folgende Grafik). Seit dem 19. Mai haben sich die Gewinnerwartungen zum 3. Quartal 2020 also insgesamt sogar um 3,78 % erhöht.
Aber so richtig vom Hocker haut mich das nicht. Zumal die Gewinnerwartungen für das Gesamtjahr 2020 aktuell bei einem Minus von 19,4 % liegen (siehe folgende Grafik). Das ist nur 0,3 Prozentpunkte besser als am 19. Mai (-19,7 %).
Und der S&P 500 notierte am 19. Mai bei ca. 2.950 Punkten. Seitdem hat der Index um fast 12 % auf mehr als 3.300 Zähler zugelegt. Die bereits sehr weit geöffnete Schere zwischen Gewinn- und Kursentwicklung ist daher noch weiter aufgegangen – auf ein Niveau, welches selbst kurz vor dem Corona-Crash nicht erreicht wurde und auch zu keinem anderen Zeitpunkt in den vergangenen 10 Jahren.
Ähnliches gilt für das aktuelle Kurs-Gewinn-Verhältnis des S&P 500, welches derzeit bei 22 liegt (forward 12-month P/E ratio).
Für europäische Aktien sinken die Gewinnerwartungen weiter
Und ähnliches gilt auch für unsere heimischen Aktien. Im Gegensatz zur Entwicklung in den USA haben sich hier die Gewinnerwartungen für das 2. und 3. Quartal 2020 allerdings sogar weiter eingetrübt. Laut Refinitiv-Daten wird aktuell damit gerechnet, dass die Gewinne der Firmen im STOXX 600 (der Aktienindex beinhaltet die 600 größten europäischen Unternehmen) im Frühjahr um 67,5 % gegenüber dem Vorjahresquartal eingebrochen sind. Vergangene Woche war „nur“ mit einem Minus von 58,3 % gerechnet worden. Und für das 3. Quartal 2020 wird mit einem Rückgang um 37 % gerechnet, nach 36,2 % in der vergangenen Woche.
Der STOXX 600 notierte am 19. Mai (um gegenüber der S&P 500-Analyse bei gleichen Daten zu bleiben) bei rund 340 Punkten. Aktuell sind es etwas mehr als 364 Zähler, womit dem Index trotz sinkender Gewinnerwartungen ein Kursplus von rund 7 % gelang.
(Der DAX notierte derweil am 19. Mai bei rund 11.000 Punkten. Seitdem hat der deutsche Leitindex um 15 % auf mehr als 12.600 Zähler zugelegt. Zwischenzeitlich waren es im Hoch bei rund 13.300 Punkten sogar fast 21 %.)
Gewinnerwartungen für 2021 sind gesunken
Und übrigens: Die Gewinnerwartungen für 2021 sind seit dem 19. Mai gesunken! War in der damaligen Börse-Intern noch von einem erwarteten Gewinnwachstum von +27,3 % für die Unternehmen aus dem S&P 500 zu lesen, so gehen Analysten nun nur noch von +27,0 % im kommenden Jahr aus. Das Ergebnis je Aktie sollte – Stand 19. Mai – 2020 insgesamt bei 129,16 Dollar und 2021 bei 164,68 Dollar landen. Inzwischen werden Werte von 129,03 und 164,43 Dollar erwartet (siehe folgende Grafik).
Gegenüber dem Jahr 2019 werden die Gewinne im Jahr 2021 also nur 0,865 % höher liegen. Im Mai waren es immerhin noch mehr als +1,01 %. Damals hatte ich schon gefragt, ob „ein Gewinnanstieg von rund 1 % binnen zwei Jahren ein Kurs-Gewinn-Verhältnis von mehr als 20 rechtfertigen kann“. Diese Frage stellt sich nun in verschärfter Form erneut.
Probleme werden von einer Liquiditätsflut verdeckt
Ich komme daher auch erneut zu der Erkenntnis, dass die Aktienmärkte nur deshalb auf dem aktuellen Niveau angelangt sind, weil die Regierungen und Notenbanken die Probleme der Corona-Pandemie mit einer zuvor nie dagewesenen Flut an Liquidität überschwemmt haben, so dass diese von den Anlegern offenbar nicht mehr gesehen werden.
Dafür sprechen auch die gestrigen US-Arbeitsmarktdaten. Der ADP-Beschäftigungsreport meldet im Juli einen Stellenaufbau in der Privatwirtschaft in Höhe von gerade einmal 167 Tausend. Im Vormonat wurde noch ein Anstieg von revidiert 4,31 Millionen gemeldet. Die Konsensschätzung lag bei 1,5 Millionen.
Doch der Dow Jones hat im Future-Handel nach Veröffentlichung dieser Daten gerade einmal rund 50 Punkte nachgegeben, um danach auf ein neues Tageshoch zu steigen und die Hochs vom 15. und 23. Juli zu überwinden. Der S&P 500 markierte ein neues Trendhoch seit März und der Nasdaq 100 sogar ein neues Allzeithoch. Offenbar setzen die Anleger darauf, dass sich Republikaner und Demokraten in den USA angesichts der Lage am Arbeitsmarkt zügig auf ein neues Hilfspaket einigen wird und damit weitere Liquidität in die Märkte gelangt.
Fazit
Die Anleger freuen sich, dass die Gewinnerwartungen in der laufenden Berichtssaison geschlagen werden und kaufen Aktien zu immer höheren Kursen. Dabei lassen sie völlig außer Acht, dass die Gewinnentwicklung übergeordnet betrachtet eigentlich kaum mehr einen Grund für Käufe liefert, weil Aktien insgesamt schon extrem teuer sind – und das am Beginn einer saisonal schwachen Phase.
Nun ja, „the trend is your friend”. Und der Krug geht so lange zum Brunnen, bis er bricht.
Ich wünsche Ihnen viel Erfolg beim Trading
Ihr
Sven Weisenhaus
(Quelle: www.stockstreet.de)