Während die EU-Staaten mit einer Asylreform ringen, berichten die Vereinten Nationen von mehr Menschen, die über das Mittelmeer nach Europa kamen.
29.09.2023 - 05:07:41Über 180.000 Migranten flüchteten 2023 übers Mittelmeer
Rund 186.000 Menschen sind laut dem UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR in diesem Jahr bereits über das Mittelmeer in Europa angekommen. Von diesen seien mit 130.000 die meisten in Italien registriert worden, erklärte die Direktorin des UNHCR-Büros in New York, Ruven Menikdiwela, im UN-Sicherheitsrat. Sie sprach allein mit Bezug auf Italien von einem Anstieg um 83 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum.
Auch die Zahl der unbegleiteten Minderjährigen ist deutlich gestiegen, wie das UN-Kinderhilfswerk Unicef berichtet. Allein auf der Route im Zentralen Mittelmeer von Afrika Richtung Italien seien in diesem Jahr bereits 11.600 Kinder und Jugendliche ohne Begleitung in Europa angekommen. Das seien 60 Prozent mehr als bis Ende September 2022, sagte die Unicef-Regionaldirektorin für Europa und Zentralasien, Regina De Dominicis.
Neben der zentralen gibt es noch die östliche und die westliche Mittelmeerroute, auf denen aber wesentlich weniger Menschen nach Europa flüchten. Nach Angaben von De Dominicis sind zur Zeit rund 21.700 unbegleitete Minderjährige in Aufnahmezentren in Italien. Zum gleichen Zeitpunkt 2022 seien es 17.700 gewesen. Die größte Gruppe seien junge Menschen aus Ägypten, Tunesien und Guinea.
De Dominicis kritisierte die EU, weil sie keine koordinierte Seenotrettung aufbiete. «Das Mittelmeer ist ein Grab für Kinder und ihre Zukunft geworden», sagte sie. «Regierungen können diese Todesfälle verhindern.»
Die Zahl der Vermissten und Toten im Zeitraum von Anfang Januar bis zum 24. September liege bei mehr als 2500 Menschen, berichtete der UNHCR-Vertreter. Die UN-Organisation für Migration (IOM) nennt mit Stand 25. September 2778 Tote und Vermisste im Mittelmeer.
Unsicherheit und Rassismus als Fluchtursachen
Laut Vereinten Nationen legten die meisten Migrantinnen und Migranten mit mehr als 100.000 aus Tunesien ab, gefolgt von Libyen mit mehr als 45.000. Neben Italien, Griechenland und Spanien steuerten die Boote auch Zypern und Malta an. Der starke Anstieg von Überfahrten hatte zuletzt zu Spannungen innerhalb der EU über Maßnahmen für ihre Begrenzung gesorgt.
Menikdiwela sprach mehrere dringende Empfehlungen aus. So müsse es Garantien über die Wahrung der Menschenrechte und verstärkte Such- und Rettungsaktionen auf dem Meer geben, vor allem seitens der Mittelmeerländer. Außerdem müssten Menschenschmuggler strafrechtlich verfolgt werden. Jegliche Zusammenarbeit mit oder Unterstützung für Libyen oder Tunesien müsse die Menschenrechte von Flüchtlingen und Migranten berücksichtigen.
Zudem müsse in den Asyl- und Transitländern mehr in die Entwicklung und Integration investiert werden. Menikdiwela rief auch dazu auf, Hindernisse für Familienzusammenführungen zu beseitigen und die Ansiedlungsquoten für Flüchtlinge aus Libyen und anderen nordafrikanischen Ländern zu erhöhen.
Bundesregierung gibt Widerstand bei EU-Asylreform auf
In Europa gab die Bundesregierung derweil nach wochenlanger Blockade ihren Widerstand gegen ein Kernelement der geplanten EU-Asylreform auf. Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) kündigte am Donnerstag bei einem EU-Treffen in Brüssel an, dass die Koalition aus SPD, Grünen und FDP einem neuen Textvorschlag zur sogenannten Krisenverordnung zustimme. «Obwohl wir noch weiteren Änderungsbedarf hätten und auch darüber hinaus, werden wir heute unserer Verantwortung gerecht», erklärte sie.
Zu einer formellen Einigung auf den neuen Text kam es allerdings nicht. Faeser sprach zwar im Anschluss an das Treffen von einer «politischen Einigung». Die spanische EU-Ratspräsidentschaft äußerte sich allerdings anders: Es gebe einige Details, die noch ausgearbeitet werden müssten, sagte der spanische Innenminister Fernando Grande-Marlaska. Das Regelwerk ist ein zentrales Element der geplanten EU-Asylreform, mit der unter anderem unerwünschte Migration begrenzt werden soll.
So soll etwa bei einem besonders starken Anstieg der Migration der Zeitraum verlängert werden können, in dem Menschen unter haftähnlichen Bedingungen festgehalten werden können. Zudem könnte der Kreis der Menschen vergrößert werden, der für die geplanten strengen Grenzverfahren infrage kommt. In Brüssel hatte die Bundesregierung ihre Ablehnung des Vorschlags für die Verordnung wochenlang damit erklärt, dass dieses Regelwerk EU-Staaten ermöglichen könnte, Schutzstandards für Migranten inakzeptabel zu senken.
Pro Asyl: «dramatisches Signal» für Menschenrechte
Nach den Plänen für die Asylreform müssten die Mitgliedstaaten auch bei einem starken Anstieg der Migration alle ankommenden Menschen registrieren. Eine mögliche Verlängerung von Fristen dafür wäre zudem nur nach vorheriger Zustimmung des Rates der Mitgliedstaaten möglich.
Das Gleiche gilt auch für die Aufweichung von Schutzstandards. Es blieben demnach auch in einer Krisensituation noch etliche Kontrollmöglichkeiten, um Missbrauch zu verhindern. Die Flüchtlings- und Menschenrechtsorganisation Pro Asyl bezeichnete die Entscheidung der Bundesregierung als «dramatisches Signal, dass Menschenrechte keine Rolle mehr spielen».
Der Kompromiss-Text
Grundlage der Ankündigung von Faeser war eine von der spanischen EU-Ratspräsidentschaft leicht überarbeitete Version des ursprünglichen Vorschlags für die Krisenverordnung. Sie soll es vor allem den deutschen Grünen ermöglichen, die Zustimmung nicht als große Niederlage aussehen zu lassen.
Nach dem neuen Text der EU-Ratspräsidentschaft wurde so zum Beispiel eine Regel gestrichen, die es EU-Ländern erlaubt hätte, bei einem starken Zustrom von Menschen zeitweise von EU-Standards für materielle Unterstützungsleistungen und den Zugang zu medizinischer Versorgung abzuweichen. Zudem soll die Anträge auf Schutz von Minderjährige und ihren Familienmitgliedern auch in Krisensituationen bevorzugt geprüft werden.
Warum die Zeit drängt
Die geplante Asylreform soll möglichst rasch über die Bühne gehen. Denn die Zeit drängt: Im Juni nächsten Jahres ist Europawahl. Projekte, die bis dahin nicht mit den Regierungen der Mitgliedstaaten ausgehandelt sind, könnten anschließend wieder infrage gestellt werden und sich lange verzögern.