Jewgeni Prigoschin, Wagner

In Russland wächst die Kritik an der eigenen Kriegsführung.

04.06.2023 - 14:37:52

Wagner-Chef beklagt «Chaos» in russischer Kriegsführung. Nicht nur Wagner-Chef Prigoschin inszeniert sich als Kremlkritiker. Erstmals wirft auch ein Abgeordneter der Regierungspartei dem Machtapparat öffentlich Versagen vor.

Mit Kritik an einer «chaotischen» Kriegsführung gegen die Ukraine setzt der Chef der russischen Privatarmee Wagner, Jewgeni Prigoschin, den Kreml zunehmend unter Druck. Angesichts der seit Tagen unter Artilleriefeuer stehenden Grenzregion Belgorod droht er nun sogar mit dem Einmarsch seiner Söldner, sollte das Verteidigungsministerium dort nicht «schleunigst» Ordnung schaffen. «In dem Ministerium herrscht Chaos», sagte Prigoschin. In dem 15 Monaten dauernden Angriffskrieg gegen die Ukraine musste Russland schon zahlreiche Rückschläge einstecken.

«Es läuft dort schon eine Eroberung des Gebiets», sagte Prigoschin zum Kampfgeschehen in Belgorod. «Es sterben friedliche Menschen.» Die Bevölkerung brauche Schutz. «Wir werden nicht auf eine Einladung warten.» Allerdings müsse das russische Militär Munition bereitstellen. «Sonst sitzen wir, wie es heißt, mit dem nackten Arsch auf dem Frost.» Die Region steht seit Tagen unter Artilleriebeschuss von ukrainischer Seite. Ortschaften mussten evakuiert werden. Die Behörden ließen Kinder in sichere Regionen bringen.

Prigoschin inszeniert sich zunehmend als Kremlkritiker

Niemand in Russland wagt solch harsche Worte wie Prigoschin, der sich zunehmend als Kremlkritiker inszeniert. Oppositionelle, die sich ähnlich äußern, sitzen entweder im Straflager, leben im ausländischen Exil - oder sind tot. Der Unterschied zu anderen Russen, die sich bei Kritik an der «militärischen Spezialoperation» - wie der Krieg in Russland heißt - im Straflager wiederfinden: Der 62-Jährige ist ein Vertrauter von Präsident Wladimir Putin. Den Kremlchef selbst stellt er - anders als echte Kremlgegner - nie in Frage. Wohl deshalb darf er als «Ventil» fungieren.

Nicht allen gefällt das: Vergangene Woche hieß es aus der Armee-Einheit Achmat des tschetschenischen Machthabers Ramsan Kadyrow, Prigoschin beschmutze das Ansehen der Armee. Darauf stehen in Russland hohe Strafen. Weiter hieß es, der Chef der Söldnertruppe Wagner solle die «Fresse» halten. Achmat-Kämpfer drohten ihm auch Gewalt an. Doch nach einem Telefonat mit Kadyrow erklärte Prigoschin am Samstag für beigelegt. Den Mund verbieten lasse er sich aber nicht. Ihm gehe es darum, dass die Armee mit Würde und Stolz ihre Aufgaben erfülle - und nicht in einem System von «Speichelleckerei, Kriecherei und Verantwortungslosigkeit» verkomme.

Klage gegen Verteidigungsministerium

Der Wagner-Chef bekräftigte, dass er an seiner Klage bei der Generalstaatsanwaltschaft gegen das Ministerium festhalte, weil durch fehlende Munitionslieferungen viele seiner Kämpfer im Kampf um die ostukrainische Stadt Bachmut getötet worden seien. Prigoschin hat seine dortigen Söldner abgezogen, um Bachmut der Kontrolle der regulären russischen Streitkräfte zu übergeben. Am Sonntag musste er einräumen, dass die ukrainischen Streitkräfte in der Stadt wieder Stellungen bezogen - ein Triumph für Kiew, ein neues Desaster für Moskau, wie Beobachter in sozialen Netzwerken kommentierten.

Doch Prigoschins Kritik richtet sich auch immer wieder gegen Teile des Kremls. Der Versuch, Zwietracht zu säen zwischen Kadyrows Truppen und der Wagner-Armee, sei ein «gefährliches Spiel». Zum Kriegsverlauf sagte er: «Nicht wir haben die Büchse der Pandora geöffnet.» Mit Kadyrow sei er sich einig darin, dass Russland für einen Sieg gegen die Ukraine eine Generalmobilmachung brauche und Kriegsrecht. Der Kreml lehnt das bisher ab, doch der Druck wird größer.

Öffentliche Kritik nimmt zu

Die öffentliche Kritik an der Kriegsführung nimmt zu, weil Moskaus Truppen keine militärischen Erfolge gegen den Widerstand der ukrainischen Streitkräfte vorweisen können. Am Kreml und am Verteidigungsministerium prallt das ab: Schweigen, Aussitzen ist die Devise. Der prominente Parlamentsabgeordnete Konstantin Satulin von der Regierungspartei Geeintes Russland beklagte vergangene Woche bei einer Konferenz zum Thema «Welche Ukraine brauchen wir?» Fehler Moskaus und ein Versagen auf ganzer Linie.

Die «militärische Spezialoperation» hätte von Anfang «Krieg» genannt werden müssen, meinte Satulin. Es sei eine Fehleinschätzung gewesen, den Krieg innerhalb weniger Tage gewinnen zu können. Kein einziges vom Kreml ausgegebenes Kriegsziel sei umgesetzt: weder eine Entmilitarisierung der Ukraine noch deren Neutralität noch einen besseren Schutz der Menschen im Donbass. «In welchem der Punkte haben wir ein Ergebnis erreicht? In keinem einzigen», sagte Satulin. Er sieht die gesamte Außenpolitik des Kremls in der Sackgasse.

Satulin wagt harte Kritik

Bisher hat kein Abgeordneter des kremltreuen Parlaments solch harte Kritik öffentlich gemacht. Allerdings ist Satulin insofern auf Kremllinie, als dass er den Krieg grundsätzlich unterstützt. Er fordert einen nationalen Kraftakt, um den Kampf zu gewinnen. Der Abgeordnete bejahte auch die Frage, ob die Ukraine als Staat überleben werde. «Weil unsere Kräfte nicht ausreichen, um das zu verhindern - bei solch einer Unterstützung, die sie erhält», meinte er mit Blick auf die westliche Hilfe für die Ukraine.

Aus Sicht des kremlkritischen Politologen Abbas Galljamow macht sich in Russland ein Gefühl der Ohnmacht breit. Angesichts der Kämpfe in Belgorod an der Grenze zur Ukraine verstünden die Menschen, dass Putins System keinen Schutz biete. Jeder sehe inzwischen die Schwäche von Putins Armee. Die Leute fühlten sich betrogen im Glauben an Russlands Unbesiegbarkeit. «In einer autoritären Gesellschaft wird Stärke geschätzt und Schwäche verachtet», sagt Galljamow. Dadurch würden «revolutionäre Tendenzen» geschürt.

@ dpa.de