Das Attentat auf Ministerpräsident Fico erschüttert die Slowakei.
16.05.2024 - 14:02:52Minister: Zustand von Fico «weiter ernst». Nach einer fünfstündigen OP soll er wieder bei Bewusstsein sein, aber noch nicht außer Lebensgefahr.
Der Zustand des slowakischen Regierungschefs Robert Fico ist nach dem Attentat «weiter ernst». Das sagte Verteidigungsminister Robert Kalinak nach einer Sondersitzung des Sicherheitsrates in Bratislava.
Die Verletzungen seien sehr schwerwiegend. Fico sei von vier Kugeln getroffen worden. «Den Ärzten ist es gelungen, den Zustand zu stabilisieren», sagte Kalinak. Fico sei aber noch nicht außer Lebensgefahr. «Wir haben eine schwere Nacht hinter uns», meinte der stellvertretende Regierungschef.
Eine Krankenhaussprecherin teilte mit, Fico sei fünf Stunden lang operiert worden. Slowakische Medien hatten am frühen Morgen berichtet, Fico habe nach der Operation wieder das Bewusstsein erlangt.
Zögerliche Informationen, viele Spekulationen
Wegen einer Informationssperre des Krankenhauses gab es nur zögerliche Informationen und viele Spekulationen über den Gesundheitszustand des Regierungschefs. Ein Attentäter hatte am Mittwoch auf den 59-Jährige geschossen. Kalinak gilt als enger Vertrauter Ficos und ist auch in der Linkspartei Smer sein Stellvertreter.
In der Nacht hatte Umweltminister Tomas Taraba der BBC gesagt, nach seinem Kenntnisstand sei die Operation gut verlaufen, Fico befinde sich «im Moment nicht in lebensbedrohlichem Zustand». Taraba ist einer von vier Vertretern Ficos.
Was ist passiert?
Der 59-Jährige war am Mittwoch von einem Attentäter angeschossen worden und musste sich in der Regionalhauptstadt Banska Bystrica einer mehrstündigen Notoperation unterziehen. Die Polizei nahm den Angreifer fest. Das Attentat hat das EU- und Nato-Land in einen Schockzustand versetzt und löste international Bestürzung aus.
Die Behörden prüfen derweil, ob seine Personenschützer ihn nicht ausreichend geschützt haben. Entsprechende Ermittlungen «wegen Behinderung der Aufgaben eines Amtsträgers» seien bereits am Mittwoch eingeleitet worden, sagte eine Behördensprecherin der Nachrichtenagentur TASR. Mehrere slowakische Experten hatten Kritik an den Sicherheitsvorkehrungen geübt. Sie rügten unter anderem, dass die Leibwächter unmittelbar nach dem Attentat chaotisch vorgegangen seien.
Wer ist der Attentäter?
Nach Angaben von Innenminister Matus Sutaj Estok handelt es sich bei dem Täter um einen 71-Jährigen aus der Kleinstadt Levice. Eine erste Vernehmung habe ergeben, dass er ein «klar politisches Motiv» gehabt habe, nämlich die Ablehnung der Regierungspolitik. Die slowakischen Behörden ermitteln wegen versuchten Mordes. Wie Innenminister Matus Sutaj Estok nach einer Sitzung des Sicherheitsrats weiter sagte, handelt es sich bei dem Mann um einen «einsamen Wolf», der mit der politischen Entwicklung in der Slowakei unzufrieden sei. Er sprach erneut von einem politisch motivierten Angriff. «Ich kann bestätigen, dass der Verdächtige kein Mitglied einer radikalisierten politischen Gruppierung ist, weder einer rechten noch einer linken», betonte Sutaj Estok.
Medienberichten zufolge soll Juraj C. in der Vergangenheit für einen privaten Sicherheitsdienst gearbeitet und deshalb einen Waffenschein besessen haben. Die Tatwaffe habe er legal besessen. In seiner Heimatregion soll er sich nach Medienberichten auch als Schriftsteller versucht haben.
Politische Parteien sollen gemeinsam beraten
Die scheidende Staatspräsidentin Zuzana Caputova und ihr gewählter Nachfolger Peter Pellegrini luden derweil die politischen Parteien zu Beratungen ein. «Lassen Sie uns aus dem Teufelskreis des Hasses und der gegenseitigen Beschuldigungen aussteigen», appellierte Caputova in Bratislava. Der Anschlag sei zwar eine individuelle Tat gewesen. «Aber die angespannte Atmosphäre des Hasses war unser gemeinsames Werk.»
Bei der live im Fernsehen übertragenen Rede traten Caputova und Pellegrini demonstrativ gemeinsam auf. «Wir wollen in dieser angespannten Situation ein Zeichen der Verständigung setzen», betonte Caputova. Beide verurteilten erneut den Angriff auf Fico. Pellegrini rief die politischen Parteien auf, ihren Wahlkampf vor der Europawahl am 9. Juni vorerst auszusetzen oder zumindest einzuschränken, bis sich die Lage beruhigt hat.
Fico war um etwa 14.30 Uhr von einem Attentäter angeschossen worden, als er sich nach einer Kabinettssitzung im Kulturhaus der Kleinstadt Handlova ins Freie begab, um wartende Anhänger zu begrüßen. Das Lokalfernsehen RTV Prievidza veröffentlichte ein Video vom Tathergang: Zu sehen ist, wie sich ein Mann an den Zaun drängt und aus unmittelbarer Nähe auf den Ministerpräsidenten schießt. Nach Augenzeugenberichten soll der Täter den Politiker laut zu sich gerufen und dann aus unmittelbarer Nähe fünf Schüsse auf ihn abgegeben haben. Der Regierungschef habe ein sogenanntes «Polytrauma», also mehrere schwere Verletzungen erlitten, teilte der Innenminister den Medien mit.
Der TV-Nachrichtensender TA3 und andere Medien bekamen eine Videoaufnahme aus der Polizeistation zugespielt. Darin sagt der benommen wirkende mutmaßliche Attentäter: «Ich stimme der Regierungspolitik nicht zu.» Als Beispiel nannte er mit undeutlicher Stimme die von der Regierung geplante Medienreform, gegen die seit Wochen Tausende Menschen demonstrieren. Auch die Frau des mutmaßlichen Täters wurde nach Medienberichten von der Polizei verhört.
Fico hatte erst vor Kurzem der liberalen Opposition vorgeworfen, ein Klima der Feindschaft gegen seine Regierung zu schüren. Es sei nicht auszuschließen, dass es angesichts der aufgeheizten Stimmung irgendwann zu einer Gewalttat komme.
Nach dem Attentat droht die Polizei mit harten Strafen für Beiträge im Internet, «die das Verbrechen gutheißen und Hass verbreiten». Die Behörden hätten den digitalen Diskussionsraum genau im Blick, betonte die slowakische Polizei bei Facebook. «Es ist ganz einfach, einer Strafe zu entgehen: Alles, was es dazu braucht, sind Respekt und Toleranz.»
Beliebt - und umstritten
Fico ist Gründer und Chef der zuletzt immer nationalistischer gewordenen Linkspartei Smer-SSD und seit fast 30 Jahren einer der beliebtesten Politiker der Slowakei. Er polarisiert aber zugleich wie kaum ein anderer. Gegner nennen ihn «prorussisch» und werfen ihm vor, die Slowakei auf einen ähnlichen Kurs wie Ungarn unter der Ägide des mit autoritären Mitteln regierenden Ministerpräsidenten Viktor Orban führen zu wollen.
Tatsächlich aber hat die Slowakei im Unterschied zu Ungarn seit Ficos Rückkehr an die Regierung im Oktober alle EU-Sanktionen gegen Russland mitgetragen und auch allen EU-Hilfen für die Ukraine zugestimmt - einschließlich der Verwendung eingefrorener russischer Gelder für die Ukraine und Befürwortung eines Beitritts der Ukraine zur EU, nicht aber zur Nato. Die Sanktionen gegen Russland lehnt Fico entgegen irreführender Medienberichte nicht grundsätzlich ab. Er kritisiert aber, dass manche von ihnen der von russischem Gas, Öl und Uran abhängigen Slowakei mehr schaden als Russland selbst. Stattdessen verlangt er Sanktionen, die Russland empfindlicher treffen.
Bundeskanzler Olaf Scholz nannte das Attentat auf Fico «unerträglich». «Ich wünsche ihm, dass er sich gut von diesem feigen Anschlag erholt», sagte Scholz. US-Präsident Joe Biden sprach von einer «schrecklichen Gewalttat». «Unsere Gedanken sind bei seiner Familie und dem slowakischen Volk», erklärte er.