Aus dem jüngsten Kampf im Südkaukasus geht das autoritär geführte Aserbaidschan als Sieger hervor.
21.09.2023 - 16:24:17Aserbaidschan strebt Machtübernahme in Berg-Karabach an. Während die in Karabach lebenden Armenier genaue Bedingungen aushandeln, fallen offenbar erneut Schüsse.
Nach den jüngsten Kämpfen um die Region Berg-Karabach im Südkaukasus haben die aserbaidschanischen Sieger und die unterlegenen Armenier eine erste Verhandlungsrunde beendet. In der Stadt Yevlax seien unter anderem «Fragen der Wiedereingliederung der armenischen Bevölkerung Karabachs» besprochen worden, teilte die Präsidialverwaltung des autoritär geführten Aserbaidschans mit. In Kürze solle es ein weiteres Treffen geben.
Unterdessen warf die Führung der international nicht anerkannten Region Berg-Karabach (Arzach) Aserbaidschan vor, eine erst gestern Mittag in Kraft getretene Waffenruhe schon wieder gebrochen zu haben. Bei Berg-Karabachs Hauptstadt Stepanakert seien Schüsse gefallen. Baku wies diese Vorwürfe als angeblich «völlig falsch» zurück.
Medien: Mindestens 200 Tote
Aserbaidschan hatte die zwar auf seinem Staatsgebiet gelegene, aber mehrheitlich von Armeniern bewohnte Region Berg-Karabach seit Dienstagmorgen mit Raketen und Artillerie angegriffen, um sie zu erobern. Am Mittwoch gaben die militärisch unterlegenen Armenier auf. Viele von ihnen befürchten nun, aus ihrer Heimat vertrieben oder - wenn sie bleiben - zum Ziel aserbaidschanischer Gewalt zu werden.
Die armenische Regierung sieht derzeit keine Gefahr für die dort lebenden Menschen. «Zum jetzigen Moment ist unsere Einschätzung so, dass keine direkte Gefahr für die Zivilbevölkerung Berg-Karabachs besteht», sagte Regierungschef Nikol Paschinjan während einer Videoansprache. Er wisse, dass etwa 1200 bis 1300 Karabach-Armenier auf den Stützpunkt der dort stationierten russischen Truppen geflüchtet seien, um sich in Sicherheit zu bringen. «Wir sind auch bereit, mögliche Schritte zu ihrer Hilfe zu unternehmen, aber das Problem besteht im geschlossenen Latschin-Korridor», klagte Paschinjan.
Durch die Kämpfe der vergangenen Tage wurden laut armenischen Medien mindestens 200 Menschen getötet und mehr als 400 verletzt.
An den Verhandlungen zwischen Aserbaidschanern und Karabach-Armeniern nahmen auch russische Soldaten teil, die in der Region stationiert sind und eigentlich eine 2020 vereinbarte Waffenruhe überwachen sollten. Viele Armenier werfen ihrer traditionellen Schutzmacht Russland, die ihre Kräfte derzeit vor allem für ihren eigenen Angriffskrieg gegen die Ukraine braucht, vor, sie nun angesichts der jüngsten aserbaidschanischen Aggression im Stich gelassen zu haben.
Humanitäre Lage ist katastrophal
Kremlsprecher Dmitri Peskow sprach von «erheblichen Fortschritten» - auch mit Blick auf einen möglichen Friedensvertrag, der zwischen Armenien und Aserbaidschan geschlossen werden könnte. Noch sei aber nicht abzusehen, wann es so weit sein könnte. Zugleich seien derzeit noch keine Gespräche zu einer möglichen Auflösung der aserbaidschanischen Blockade der einzigen armenischen Zufahrtsstraße nach Berg-Karabach geplant.
Diese Straße, der Latschin-Korridor, wird bereits seit Monaten von Aserbaidschanern abgeriegelt, weshalb in Berg-Karabach schon vor Beginn der jüngsten Angriffe eine humanitäre Katastrophe ausbrach. Bei den Verhandlungen in Yevlax sicherte die aserbaidschanische Seite nun eigenen Angaben zufolge immerhin zu, dringend benötigten Treibstoff in die Region zu liefern.
Der aserbaidschanische Präsident Ilham Aliyev entschuldigte sich unterdessen nach Angaben aus Moskau für den Tod von russischen Soldaten in Berg-Karabach. Aliyev habe eine genaue Aufklärung des Vorfalls zugesagt, hieß es aus dem Kreml. Das Auto mit den russischen Insassen war am Vortag bei dem Ort Dschanjatag unter Feuer geraten. Offiziell wurde die Zahl der Toten nicht genannt, einige russische Medien sprachen von vier getöteten Soldaten.
UN mahnen Dialog an
Die Vereinten Nationen mahnten unterdessen Gespräche zwischen den Konfliktparteien an. «Ein echter Dialog zwischen der Regierung Aserbaidschans und Vertretern der Region sowie die uneingeschränkte Beteiligung Armeniens und Aserbaidschans am Normalisierungsprozess sind der einzige nachhaltige Weg nach vorne», sagte der zuständige UN-Beauftragte Miroslav Jen?a in New York in einer Dringlichkeitssitzung des UN-Sicherheitsrates zu dem Konflikt.
Oberste Priorität habe der Schutz der Zivilbevölkerung. Kampfhandlungen müssten dauerhaft eingestellt werden, sagte Jen?a weiter. Die humanitäre Lage in der Region sei fragil.
Armenien wirft Aserbaidschan «ethnische Säuberungen» vor
Armenien hat Aserbaidschan im Konflikt um Berg-Karabach vorgeworfen, mit «ethnischen Säuberungen» gegen die armenische Bevölkerung vorzugehen. «Die Intensität und Grausamkeit der Offensive macht deutlich, dass die Absicht darin besteht, die ethnische Säuberung der armenischen Bevölkerung von Berg-Karabach abzuschließen», warf der armenische Außenminister Ararat Mirzoyan der Regierung in Baku der Dringlichkeitssitzung des UN-Sicherheitsrates in New York zur Lage in dem Gebiet vor.
Laut Mirzoyan seien mehr als 10.000 Menschen gewaltsam vertrieben worden, darunter Frauen, Kinder und ältere Menschen, die ohne Nahrung und andere Lebensmittel im Freien leben müssten. Tausende Familien seien getrennt worden. Die Lage sei seit längerem alarmierend. Die internationale Gemeinschaft habe sich aber geweigert, die Alarmzeichen ernst genug zu nehmen.
Der UN-Sicherheitsrat habe in der Vergangenheit nicht angemessen reagiert, beklagte der armenische Minister - nun müsse er endlich handeln. «Die Rechte und die Sicherheit des armenischen Volkes von Berg-Karabach müssen angemessen berücksichtigt und international garantiert werden», verlangte Mirzoyan.
Baerbock verlangt Rückkehr an den Verhandlungstisch
Bundesaußenministerin Annalena Baerbock hat unterdessen von den Konfliktparteien in Berg-Karabach eine Rückkehr an den Verhandlungstisch verlangt. «Was die Menschen in der Region brauchen, ist ein dauerhafter Frieden zwischen Aserbaidschan und Armenien. Und das kann nur am Verhandlungstisch erreicht werden», sagte die Grünen-Politikerin in New York. «Jetzt ist die Zeit zur Deeskalation», betonte Baerbock, die zugleich davor warnte, die armenische Demokratie zu destabilisieren.
Baerbock verlangte eine vollständige Einstellung der Militäraktionen. Man habe zwar die Berichte über einen Waffenstillstand zur Kenntnis genommen. «Was wir aber brauchen, ist ein völliges Ende der Gewalt.» Aserbaidschan trage die Verantwortung, die Zivilbevölkerung von Berg-Karabach zu schützen, sagte die Außenministerin. Eine Vertreibung oder erzwungene Abwanderung ethnischer Armenier aus Berg-Karabach sei nicht akzeptabel. Zugleich dürfe die territoriale Integrität und Souveränität Armeniens und Aserbaidschans nicht in Frage gestellt werden.