Angesichts der zivilen Opfer der Militäroffensive im Gazastreifen bröckelt der internationale Rückhalt.
14.12.2023 - 04:21:46Israel will Krieg gegen Hamas bis zum Sieg fortführen. Selbst der enge Verbündete USA äußert Bedenken. Der Überblick.
Trotz internationaler Forderungen nach einer Waffenruhe im Gazastreifen will der israelische Regierungschef Benjamin Netanjahu den Krieg gegen die islamistische Hamas fortsetzen. «Wir machen weiter bis zum Ende, bis zum Sieg, bis zur Zerstörung der Hamas, auch angesichts internationalen Drucks», sagte er vor Soldaten nach einer Mitteilung des Regierungspresseamtes. «Nichts wird uns aufhalten.»
Alle Nachkriegspläne für den Gazastreifen, die nicht die Hamas einbeziehen, sind nach Auffassung des Chefs der islamistischen Gruppe aber eine «Illusion» und eine «Fata Morgana». Das sagte deren Anführer Ismail Hanija in einer Ansprache.
Angesichts der katastrophalen humanitären Lage im Gazastreifen verliert Israel allerdings immer mehr an Rückhalt für seinen Krieg gegen die Terrororganisation Hamas. In der UN-Vollversammlung hatten mehr als 150 Länder einen sofortigen humanitären Waffenstillstand verlangt, was Israel empört zurückwies.
Selbst aus den verbündeten USA wächst der Druck. Das Weiße Haus erwartet vom Besuch des Nationalen Sicherheitsberaters in Israel ab heute «äußerst ernste Gespräche». Jake Sullivan will mit Netanjahu und dem Kriegskabinett über die nächste Phase der militärischen Operationen im Gazastreifen und die israelischen Bemühungen sprechen, präziser vorzugehen und den Schaden für die Zivilbevölkerung zu verringern.
Israel: Hamas nutzt Zivilisten als Schutzschilde
Angesichts der wachsenden Kritik an den zahlreichen zivilen Opfern der Militäroffensive im Gazastreifen warfen die israelischen Streitkräfte der Hamas erneut vor, Zivilisten als menschliche Schutzschilde zu missbrauchen. «Unsere Truppen haben große Waffendepots und Tunnel in mehreren Schulen gefunden. Sie haben sogar versteckt in einem Teddy-Bären ein Scharfschützengewehr entdeckt», sagte Militärsprecherin Keren Hajioff.
Israels Armee nahm zudem nach eigenen Angaben Dutzende Terroristen rund um das Krankenhaus Kamal Aduan im Norden des Gazastreifens fest. Das Militär veröffentlichte Aufnahmen, die bewaffnete palästinensische Männer zeigen, die mit erhobenen Händen das Krankenhaus verlassen. Auf Fotos und Videos waren mehrere Männer mit freiem Oberkörper zu sehen, die Waffen über den Kopf halten und diese sowie ihre Ausrüstung daraufhin niederlegen.
Die Streitkräfte bemühen sich, bei ihrem Einsatz gegen die Hamas zivile Opfer zu vermeiden. «Unser Krieg gilt der Hamas, nicht den Menschen in Gaza», sagte Hajioff. «Aber während die Hamas jeden unschuldigen Toten als Teil ihrer Strategie betrachtet, ist für uns jeder Tod eines Unschuldigen eine Tragödie.»
Etwa 40 - 45 Prozent der von Israel im Gaza-Krieg abgeworfenen Luft-Boden-Munition ist nach CNN-Informationen nicht präzisionsgelenkt. Ungelenkte Munition sei in der Regel weniger präzise und könne eine größere Gefahr für die Zivilbevölkerung darstellen, hieß es in dem Bericht.
Israel bietet in Gaza Geld für Hinweise zu Hamas-Führern
Israels Militär bietet Augenzeugen zufolge Bewohnern des Gazastreifens Geld für Informationen zu Hamas-Führern. Demnach verteilt die Armee Flugblätter, auf denen sie unter anderem für Hinweise zum Chef der Islamistenorganisation im Gazastreifen, Jihia Sinwar, 400.000 US-Dollar (rund 366.000 Euro) bietet.
Für dessen Bruder Mohammed Sinwar stellt das Militär demnach 300.000 US-Dollar (knapp 275.000 Euro), für Mohammed Deif, den Kommandeur des bewaffneten Hamas-Arms, den Kassam-Brigaden, 100.000 US-Dollar (knapp 92.000 Euro) in Aussicht.
Palästinenser: Tote bei Militäreinsatz in Dschenin
Bei einem israelischen Militäreinsatz in der Nacht wurden in Dschenin im Westjordanland indes nach palästinensischen Angaben zwei Menschen getötet. Sie seien bei einem Drohnenangriff auf ein Haus in der Stadt getroffen worden, teilte das palästinensische Gesundheitsministerium mit. Ein dritter Mensch erlag demnach wenig später seinen schweren Verletzungen. Unter den Toten war auch ein Minderjähriger. Von der israelischen Armee gab es zu dem Vorfall zunächst keine Informationen.
Israelische Soldaten sangen nach Medienberichten über Lautsprecher einer Moschee in Dschenin Chanukka-Lieder sowie das wichtigste jüdische Gebet «Schma Israel» gesungen. In den sozialen Medien kursierten Videos, die zeigten, wie Soldaten die Lautsprecheranlage einer örtlichen Moschee übernahmen und über das Mikrofon mehrere Lieder für das Chanukka-Fest sangen. Über den Lautsprecher einer Moschee ruft normalerweise der Muezzin die Muslime zum Gebet auf.
Auch an der Grenze zwischen dem Libanon und Israel gibt es weiterhin Beschuss. Das israelische Militär meldete, es habe Abschüsse aus dem Nachbarland registriert. Kampfflugzeuge hätten Infrastrukturen und Militärgelände der Hisbollah im Libanon angegriffen.
Die proiranische Schiitenorganisation teilte mit, israelische Soldaten «mit angemessenen Waffen» im Grenzgebiet angegriffen zu haben. Außerdem teilte die Hisbollah den Tod eines ihrer Mitglieder mit, ohne auszuführen wo und wann die Person ums Leben kam.
UNRWA-Chef: Verzweifelte Familien ohne Essen
Weil es im Gazastreifen so wenig Nahrungsmittel gibt, brach bei der Ankunft einer der wenigen Lastwagen mit Hilfsgütern Chaos aus. Das berichtete der Chef des UN-Hilfswerks für Palästinensische Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA), Philippe Lazzarini, am Mittwoch in Genf.
«Die Palästinenser stehen vor dem dunkelsten Kapitel ihrer Geschichte seit 1948», sagte er. 1948 wurde der Staat Israel gegründet. Er habe verzweifelte Menschen gesehen, die direkt auf der Straße Tüten aufrissen, um das wenige Essen zu verschlingen, das sie ergattern konnten, schilderte Lazzarini die Lage.
Israels Armee verkündete inzwischen eine vierstündige «taktische» Kampfpause in einem Viertel in Rafah im Süden des Gazastreifens. Diese Pause aus humanitären Gründen solle dazu dienen, der Zivilbevölkerung die Möglichkeit zu geben, Vorräte wie Nahrungsmittel und Wasser aufzufüllen, teilte die für Kontakte mit den Palästinensern zuständige israelische Cogat-Behörde auf X (ehemals Twitter) mit.
Die Kampfpause beschränkt sich demnach auf das Al-Salam-Viertel in der Stadt mit einem Grenzübergang zu Ägypten, über die die Transporte von Hilfsgütern für die notleidende Zivilbevölkerung in dem abgeriegelten Küstenstreifen transportiert werden.
Israels Militär: Hamas feuert Raketen
Die islamistische Hamas feuert nach Angaben der israelischen Streitkräfte weiterhin Raketen aus der von Angriffen ausgenommenen «humanitären Zone» im Gazastreifen ab. Seit der Einrichtung der Schutzzone für Zivilisten am 18. Oktober seien aus dem Gebiet rund um die Ortschaft Al-Mawasi an der Mittelmeerküste 116 Raketen auf Israel abgeschossen worden, teilte das Militär mit.
38 Geschosse seien innerhalb des Gazastreifens eingeschlagen. «Die Hamas nutzt die humanitäre Zone weiterhin, um terroristische Aktivitäten auszuüben und bringt damit das Leben von Zivilisten im Gazastreifen und in Israel in Gefahr», hieß es in der Mitteilung der Streitkräfte weiter.
USA halten Waffen für Israel wegen radikaler Siedler zurück
Die USA zögern einem Zeitungsbericht zufolge mit einer Lieferung von mehr als 27.000 Gewehren, die für Israels Polizei bestimmt sind. Die Regierung von Präsident Joe Biden habe Bedenken, dass die Waffen auch in die Hände radikaler Siedler im Westjordanland gelangen könnten, schrieb das «Wall Street Journal» unter Berufung auf nicht namentlich genannte Regierungsbeamte. Die bisherigen Zusicherungen Israels, dass die Gewehre - darunter die Modelle M4 und M16 - nur bei der Polizei verblieben, reichten demnach nicht aus.
Das US-Außenministerium habe deshalb konkrete Schritte gefordert, mit denen die von Siedlern im Westjordanland ausgehende Gewalt gegen Palästinenser eingedämmt werde, schrieb die Zeitung weiter. Die USA befürchten, dass die Gewalt im Westjordanland zu einem regionalen Konflikt führen könnte.
Britischer Außenminister kündigt Sanktionen gegen Siedler an
Zudem stellt der britische Außenminister David Cameron Einreisebeschränkungen gegen radikale israelische Siedler in Aussicht. Indem extremistische Siedler palästinensische Zivilisten angriffen und töteten, würden sie sowohl die Sicherheit und Stabilität der Israelis als auch der Palästinenser untergraben, teilte Cameron beim Kurznachrichtendienst X mit.
Israel müsse mehr tun, um die Gewalt von Siedlern zu stoppen und Täter zur Rechenschaft zu ziehen. «Wir verbieten denjenigen, die für Siedlergewalt verantwortlich sind, die Einreise ins Vereinigte Königreich», kündigte Cameron an.
Regen verschlimmert Lage für Vertriebene
Aufgrund von heftigen Regenfällen verschärft sich die Lage der Vertriebenen im Gazastreifen weiter. «Wir haben Angst um unsere Kinder wegen der Kälte und des Regens, die mit dem Wintereinbruch immer schlimmer werden», sagt Chadija al-Scharafi, der im Gazastreifen wohnt. Er und seine Familie hätten auf der Flucht aus dem nördlichen Teil des abgeriegelten Gebiets alles zurückgelassen. Jetzt seien sie ohne ausreichend Kleidung dem Wetter ausgesetzt.
Nach Angaben des UN-Palästinenserhilfswerks UNRWA sind mittlerweile fast 1,9 Millionen Menschen wegen des Kriegs im Gazastreifen Binnenvertriebene - bei mehr als 2,2 Millionen Bewohnern insgesamt. Viele Menschen schlafen unter freiem Himmel.
Israelische Feministinnen beklagen Gleichgültigkeit
Israelische Frauenrechtlerinnen haben bei einem Besuch in Deutschland darauf hingewiesen, dass es bei dem terroristischen Überfall der Hamas am 7. Oktober auch extreme Fälle sexualisierter Gewalt gab. Viele dieser Gräueltaten seien erst später ans Licht gekommen, weil Mediziner in den ersten 48 Stunden vor allem mit der Notversorgung von Verletzten beziehungsweise der Identifizierung Hunderter Leichen beschäftigt gewesen seien, sagte Miki Roitman der Deutschen Presse-Agentur.
Außerdem habe es eine Weile gebraucht, bis die schwer traumatisierten Betroffenen in der Lage gewesen seien, über das, was mit ihnen geschehen war, zu sprechen, fügte sie hinzu. «Es gab eine zeitliche Verzögerung, die entstanden ist, weil man auch Angst hatte, die Familien zu verletzen.» Sie sei überzeugt, dass es sich nicht um Verbrechen Einzelner gehandelt habe, sondern um ein systematisches Vorgehen der Hamas.
Die Vorsitzende der Kommission, Cochav Elkayam-Levy, hat das Gefühl, dass diese Verbrechen, «die unsere Gesellschaft für Generationen traumatisieren werden» vor allem durch die Vereinten Nationen, aber auch durch Organisationen wie Amnesty International bislang nicht ausreichend berücksichtigt werden. Als Frauenrechtlerin fühle sie sich betrogen, sagte sie der dpa.
Hamas: Vermittler in Gesprächen zu Feuerpause im Gaza-Krieg
Vermittler im Gaza-Krieg sind nach Aussagen der islamistischen Hamas in «ernsthaften Gesprächen über eine Feuerpause». Ein hochrangiger Hamas-Funktionär sagte der Deutschen Presse-Agentur, es werde keinen Austausch von Geiseln und Gefangenen geben, bevor eine Waffenruhe in Kraft trete.
Hamas-Chef Ismail Hanija hatte zuvor gesagt, er sei offen für Gespräche zu «allen Ideen oder Initiativen, die zur Beendigung der Aggressionen führen». Gemeint sind die israelischen Angriffe auf den Gazastreifen als Reaktion auf einen brutalen Terrorüberfall der Hamas und anderer Extremisten auf Israel am 7. Oktober. Die Hamas sei offen für Gespräche, die zu einem «politischen Weg führen könnten, der das Recht des palästinensischen Volkes auf einen unabhängigen Staat mit Jerusalem als Hauptstadt sichert», schrieb die Gruppierung auf ihrem Telegram-Kanal.